Das Geheimnis der Hebamme
es vorsichtig auf Marthes Gesicht.
Griseldis war ihnen gefolgt. Ein Blick auf Marthes zerfetztes Kleid, das nun unter dem weggerutschten Umhang sichtbar wurde, bestätigte ihren Verdacht.
»Ich habe schon immer geahnt, dass es mit ihr so ein Ende nehmen wird«, keifte die Frau des Ältesten.
»Lass sie in Ruhe! Denkst du, sie hat das gewollt?«, gab Emma harsch zurück.
»Wenn es Notzucht war, warum verkündet sie es nicht sofort und erhebt Klage – so wie das Gesetz es vorschreibt: mit zerrissenem Gewand und gerungenen Händen und weinenden Augen und zerzaustem Haar?«
»Weil es ein Leichtes für die Übeltäter wäre, Leumundszeugen aufzutreiben, die bekunden, dass sie dergleichen niemals tun würden. Weil unser Wort gegen das der Herren nichts gilt. Und weil wir dann sofort gemeinsam losziehen müssten, bis wir einen Richter finden«, giftete Emma. »Willst du, dass wir allesamt tagelang durch den Wald laufen, alles stehen und liegen lassen, um dann doch kein Recht zu kriegen?«
Griseldis schien auf einmal wenig begeistert von dieser Aussicht.
»Sagt Christian nichts davon«, drängte Marthe noch einmal leise. »Er gerät in größte Gefahr, wenn er davon erfährt – und wir alle mit ihm.«
Sie sah Griseldis eindringlich an. »In größte Gefahr. Vor allem darf er nie erfahren, wer die vier Männer waren! Das könnte sein Ende sein und unser aller Untergang. Erzähl den anderen, ich hätte mich auf der Flucht vor einem Wildschwein verirrt und sei gestürzt.«
Griseldis überlegte lange. Dann nickte sie zögernd und ging nach draußen.
»Ich will mich waschen«, sagte Marthe. Nachdem Jonas einen Eimer Wasser vom Bach geholt hatte und wieder gegangen war, zerrte sie sich das zerrissene Kleid vom Leib und fing an, ihren ganzen Körper wie besessen abzuschrubben, wieder und wieder.
Dann zog sie das alte Kleid an, das ihr Emma gebracht hatte. Hedwigs Kleid schob sie zu Emma hinüber.
»Verbrenne das!«
Die legte es beiseite und brachte Marthe einen Becher.
»Hier, trink.«
Das kühle Wasser tat gut.
Wieder umarmte Emma sie und strich ihr übers Haar.
»Das ist wohl das Los, dem wir nicht entrinnen können. Sie sind die Herren, und wir müssen gehorchen und büßen für Evas Sünde. Nur kann ich manchmal nicht glauben, dass Gott so etwas mitansehen kann.«
Marthe schwieg.
»Alle denken, ich sei davongekommen.« Emma lachte bitter.
»Glaubst du wirklich, dass Wulfhart mich übersehen hätte?«
Überrascht sah Marthe auf.
»Dich hätte er auch bald geholt. Er hat mich zu sich befohlen und gedroht, Jonas in den Kerker zu werfen, wenn ich ihm nicht zu Willen sei. Es war furchtbar, es tat weh, ich habe mich so geschämt. Und Pater Johannes hat mir die Schuld an allem gegeben, weil alle Weiber durch und durch verderbt sind seit Evas Zeiten. Also denk ja nicht daran, die Sache zu beichten.«
Emma warf krachend den Holzbecher zu Boden und kauerte sich neben Marthe.
»Manchmal glaube ich, dass ich an der Erinnerung ersticken muss, wenn Jonas mich ansieht. Er hat mich nie danach gefragt. Aber glaubst du, er hätte das Dorf freiwillig verlassen, wenn er nicht etwas geahnt hätte? Jetzt kann ich nur hoffen, dass mein Kind erst nach Weihnachten zur Welt kommt. Dann bin ich wenigstens sicher, dass es von Jonas ist.«
Stück für Stück wurde Marthe von einer riesengroßen, stummen Wut ergriffen.
So weit waren sie in menschenleeres Gebiet gezogen, hatten so viele Mühen und Gefahren auf sich genommen, um dem Hunger und der Gewalt zu entfliehen – und dann trafen sie wieder auf Hunger und Gewalt.
War dies das Ende der Hoffnung auf eine glückliche neue Welt?
Riskantes Bündnis
Angespannt beobachtete Christian den schwer bewaffneten Trupp, der sich formiert hatte, um mit Otto nach Magdeburg zu reiten. Sie mussten damit rechnen, unterwegs auf Gefolgsleutedes Löwen zu treffen. Doch dieser Gedanke bereitete ihm noch die geringsten Sorgen.
Schlimme Nachrichten waren seit der Einnahme Bremens nach Meißen gelangt. Heinrich hatte seinen Truppen erlaubt, die Stadt einen Tag und eine Nacht lang zu plündern, und über alle Bürger die Acht verhängt, die aus der Stadt in die Sümpfe geflüchtet waren. Erst nach Eingreifen des Bremer Erzbischofs erlaubte er ihnen die Rückkehr gegen Zahlung einer unglaublich hohen Geldbuße. Dann eroberte der Löwe Oldenburg. Christian von Oldenburg, gerade noch gefeierter Held und militärisch erfolgreichster Verbündeter von Markgraf Otto, bezahlte die Niederlage mit
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