Das Geheimnis der Herzen
Ich drehte mich gereizt um.
»Sie werden nie darauf kommen, wer das hier ist«, sagte er und zeigte auf den jungen Mann, der neben Mastro stand.
Dieser Junge war nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Er trug seine Uniform mit der sorglosen Lässigkeit eines Knaben, der noch in die Schule geht. Die Knöpfe standen größtenteils offen, sein Kragen war nicht zugeknöpft. Seine Haut war hell wie Milch.
»Sie kennen sich«, sagte Dugald zu mir.
Der Junge streckte die Hand aus, aber ohne zu lächeln, ohne mich anzusehen. Wenn wir uns tatsächlich schon einmal begegnet waren, wie Dugald behauptete, dann hatte dieses Zusammentreffen uns beide offenbar nicht weiter beeindruckt.
Jetzt konnte Dugald nicht mehr an sich halten. »Revere Howlett!«
Die schwarzen Haare seines Vaters. Die milchweiße Haut seiner Mutter. Jetzt sah ich die Ähnlichkeit ganz deutlich. Im Kopf rechnete ich nach. Er musste mindestens zwanzig Jahre alt sein. Zwanzig! Bei meinem Besuch in Baltimore war er noch ein kleiner Junge gewesen. In Oxford hatte ich ihn nicht gesehen, denn er lebte im Internat, als ich kam. Und nun war er unterwegs in die Picardie, als Mastros privater Sanitäter. Sir William hatte das vermutlich arrangiert, nachdem er erfahren hatte, dass die McGill eine Hospitaleinheit plante. Es war eine praktische Art, der Einberufung in die britische Arme zu entgehen und dennoch nicht das Gesicht zu verlieren. So viele Männer starben … Und Dr. Mastro und die anderen würden ein Auge auf ihn haben.
»Dr. White ist eine alte Freundin Ihres Vaters«, erklärte Dugald.
Ich wurde rot. Solche Kommentare hörte der Junge vermutlich jeden Tag. »Ich war vor vielen Jahren bei Ihrer Familie in Baltimore zu Besuch«, sagte ich, um ein Gespräch bemüht. »Und Sie haben mich gleich mit einem Revolver umgelegt.«
Reveres Gesicht wurde weich und nachdenklich. Wie gern hätte ich gewusst, ob er sich an das Herz unter dem Tisch erinnerte! Die Geschichte musste für ihn mindestens so traumatisch gewesen sein wie für mich. Ich hatte allerdings nicht vor, ihn darauf anzusprechen.
»Sie sind auch in Oxford gewesen«, sagte er bedächtig. »Aber da war ich nicht zu Hause. Sie sind krank geworden oder irgendwas.« Sein Akzent klang eher nach Oxford als nach Baltimore.
Ich nickte betreten. Vielleicht war ich bei den Howletts ja so eine Art Familienlegende. Das Schiffshorn tutete, und wir zuckten alle zusammen. Männer in Marineuniform befahlen den Frauen zurückzutreten. Bald mussten die Soldaten an Bord.
Dugald Rivers griff ein letztes Mal nach meiner Hand und führte sie an seine Lippen, sodass alle es sehen konnten. Wie unangenehm! Ich wandte mich ab, um zu gehen, versäumte es aber in meiner Panik, mich von Mastro oder Revere Howlett angemessen zu verabschieden. Weit kam ich sowieso nicht, denn eine kompakte Wand aus Frauen verstellte mir den Weg. Es gab kein Durchkommen, und man konnte sie auch nicht umgehen, also war ich gezwungen, mich in das Gewühle einzufügen.
So wie es aussah, begab sich die gesamte Universität an diesem Tag auf die Metagama: drei Jahrgänge von Medizinstudenten und so gut wie alle Fakultätsmitglieder, die sich nicht schon im vergangenen Herbst beim First Canadian Contingent gemeldet hatten, als der erste Aufruf gekommen war. Ich würde allein zurückbleiben. Nun, natürlich nicht ganz allein. Ich schaute mich um. Die Frauen blieben hier. Ein paar fuhren als Krankenschwestern mit, aber viele waren es nicht.
Wieder tutete das Schiffshorn. Stille senkte sich über die Menschenmenge, und die Männer begannen im Gänsemarsch die Planke hinaufzuschreiten. Am liebsten hätte ich geweint. Es war nicht richtig, hier am Ufer zu stehen und den Kollegen zum Abschied zu winken. Klar, es gab ein Dutzend praktische Gründe, weshalb ich nicht gehen konnte. In der Stadt fand man fast keine praktizierenden Ärzte mehr. Diejenigen, die noch hier arbeiteten, waren entweder Franzosen, oder sie hatten ihre besten Jahre schon lange hinter sich. Meine Dienste wurden vom Kinderkrankenhaus angefordert und auch vom Montreal General Hospital. Und dann war da noch Laure. Wer würde für sie sorgen, wenn ich nach Frankreich ging? Miss Skerry war unerschütterlich in ihrer Treue, aber sie konnte die Rechnungen nicht bezahlen. Mein Gehalt von der McGill mochte zwar lächerlich gering sein, aber besser als ein Soldatenlohn war es allemal. Wenn man Familienvater war, brauchte man zusätzliche Mittel, um einzurücken, wie Dr. Mastro.
Mein Blick
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