Das Geheimnis der Herzen
meinem Leben zu löschen. Dieses Unglück hatte gezeigt, wie kurzsichtig ich gewesen war. Jakob hatte sich mit Leib und Seele für mich und für die Arbeit, die ich so liebte, eingesetzt. Die Flamme der Lampe zitterte, aber als ich aufblickte, war ich allein.
VI
KRIEG
Vor wenig Tagen noch,
Da lebten wir, sah’n Morgendämmerung
und Sonnenuntergang,
Liebten und wurden geliebt …
– JOHN MCCRAE, »IN FLANDERS FIELDS«
21
6. Mai 1915
D er Kai, an dem der schwarze Rumpf der Metagama vertäut war, stand voll mit Leuten. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, konnte aber trotzdem nicht viel sehen, außer einem Meer aus Hauben und Hüten. Dugald Rivers, der neben Dr. Mastro und einem mir unbekannten Jungen stand, rief laut meinen Namen und winkte mir. Es sah aus, als würde er jeden Moment vom Boden abheben. Er löste sich aus der Gruppe und kam mit wedelnden Armen auf mich zu. Als er mich erreicht hatte, beugte er sich vor und drückte seinen Mund auf meine Wange. Es war kein richtiger Kuss, weil seine Lippen geschlossen und hart waren. Man hätte eher von einem Zusammenprall sprechen können. Als hätten sein Kopf und sein Körper sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können.
Ich bemühte mich zu lächeln. In den letzten Wochen hatte sich Dugald ziemlich merkwürdig verhalten, was ich auf sein Nervenkostüm geschoben hatte. Ich fand, dass ich nicht berechtigt war, ein Urteil über ihn zu fällen, und versuchte deshalb, das, was er tat und was er sagte, nicht allzu persönlich zu nehmen. Immerhin waren es die letzten Tage vor seiner Abreise und sein erster Militäreinsatz seit Südafrika. Bestimmt weckte dieser Umstand in ihm alle möglichen Erinnerungen. Die Nachrichten aus Europa waren nicht gut. Im vergangenen Herbst, als das erste kanadische Kontingent aufbrach, hatte noch allgemeine Euphorie geherrscht. Alle waren davon überzeugt gewesen, dass ein rascher Sieg bevorstand und eine baldige Heimkehr, aber die kanadischen Männer, viele von ihnen Studenten der McGill, hatten einen eisigen Winter in Südengland verbracht, in einem Lager in der Ebene von Salisbury. Drei Monate lang hatte es nur geregnet, was die Moral dämpfte und außerdem eine Menin gitis-Epidemie auslöste. Mehrere junge Männer von der McGill waren gestorben, ehe sie überhaupt das Schlachtfeld erreichten. Die Nachrichten von der anderen Seite des Kanals, also aus Belgien und Frankreich, waren sogar noch schlechter. Die deutschen Soldaten töteten beängstigend viele Mitglieder der britischen Infanterie.
Vor zwei Tagen hatte Dugald mich eingeladen, mit ihm im University Club zu Abend zu essen. Nachdem wir das graue Gebäude in der Mansfield Street auf der anderen Seite des Campus betreten hatten, hängte ich meinen Mantel auf und nahm dann wie immer die Hintertreppe, die für Kellner und Frauen reserviert war. Ich ärgerte mich seit jeher über diese Treppe – es war, als wollten die Männer meine Existenz verleugnen. Als ich ins obere Stockwerk und zum zentralen Speisesaal kam, wartete Dugald schon auf mich. Ohne mich richtig zu begrüßen, nahm er mich an der Hand und zog mich in eine Nische bei den Toiletten.
Meine Beziehung zu Dugald war nie körperlich gewesen. Deshalb erschien es mir sehr unnatürlich, dass er meine Hand ergriff. Er ließ mich auf einem Fenstersitz Platz nehmen. Sein Verhalten hatte nichts Spontanes, alles wirkte genau geplant. Ehe ich mich versah, überreichte er mir einen Ring. Es war sein College-Ring, stellte ich fest, nachdem ich den Schock einigermaßen überwunden hatte. Er trug ihn immer am kleinen Finger seiner rechten Hand und nahm ihn nicht einmal ab, wenn er etwas sezierte oder sich die Hände schrubbte.
»Wie Sie ja wissen, Agnes«, sagte er, ohne mich anzuschauen und in sehr förmlichem Tonfall, »muss ich Sie bald verlassen. Am Montag werden die Segel gesetzt.« Er hielt meine Hand hoch und versuchte, mir den Ring an den Finger zu stecken, was gar nicht so leicht war. »Ich möchte, dass Sie den hier tragen«, sagte er. »Damit Sie an mich denken, wenn ich fort bin.«
Ich war völlig perplex, aber ich wollte Dugald auf keinen Fall kränken. Er war ein wichtiger, lieber Freund, der jetzt an die Front musste. Der Ring war offensichtlich nicht als Verlobungssymbol gedacht. Vielleicht sollte er ein Zeichen der Freundschaft sein?
Dugald Rivers war einer der begehrtesten Junggesellen in der ganzen Stadt. Obwohl er schon fünfundvierzig war, sah er immer noch sehr gut aus und wirkte
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