Das Geheimnis der Herzen
Rücken zu und schritt den Landungssteg hinauf.
22
Dezember 1915
D as Wohnzimmer der Priory hatte sich seit meiner Kindheit nicht verändert. Die Polsterungen des Sofas und der Sessel waren etwas stärker abgewetzt, und im Verputz befanden sich mehr Risse als früher, doch im Grunde war der Raum noch genau wie damals. Ich war in diesem zweiten Kriegswinter, so wie jedes Jahr, für die Weihnachtstage nach St. Andrews East gekommen und brachte aus Montreal Geschenke und Leckereien mit. Miss Skerry sagte, dass meine Winterbesuche und die zwei Wochen, die ich jeden Sommer mit ihnen dort verbrachte, die Höhepunkte des Jahres seien. Sie und meine Schwester lebten völlig isoliert. Die Frauen aus den alteingesessenen, Englisch sprechenden Familien kamen noch gelegentlich bei ihnen vorbei, brachten Kompott und Kuchen, aber die Franzosen, die nicht schon seit Generationen unsere Familie kannten, waren weniger umgänglich. Vor allem aber hatten sie Angst vor Laure und nannten sie » la folle de St. André «.
Laure ging es gut, wenn ich zu Besuch kam. Keine Spur von den Wutanfällen, die Miss Skerry in ihren wöchentlichen Briefen beschrieb. Meine alte Gouvernante betrachtete diese Briefe als ihre Pflicht – Berichte von der Front, eine präzise Schilderung des Krankheitsverlaufs und der täglichen Bemühungen, damit umzugehen. Detailliert beschrieb sie das Nasenbluten und die Verfärbung des Gesichts, die Laures Anfälle begleiteten, sie erzählte, dass meine Schwester regelmäßig davonlief und in die kleine Stadt entfloh – und wie demütigend es für sie war, wenn sie dann wieder eingefangen und in die Priory zurückgebracht wurde. Schon vor längerer Zeit hatte ich aufgehört, diese Berichte zu lesen, weil sie mich so quälten. Ich legte die Umschläge ungeöffnet auf meine Kommode. Wenn der Stapel zu hoch wurde, verstaute ich sie in einer Schachtel in meinem Schrank. Die eigentliche Funk tion dieser Briefe bestand darin, so dachte ich, dass sie Miss Skerry die Illusion erlaubten, mit ihrer Aufgabe nicht ganz allein zu sein.
Jetzt hatte Miss Skerry im Kamin Feuer gemacht. Sie, Laure und ich kauerten davor, in Decken gehüllt. In den letzten zehn Jahren hatte meine alte Erzieherin ziemlich zugenommen. Sie war nie hübsch gewesen, aber es hatte eine Zeit gegeben, da war sie offensichtlich stolz auf ihre gepflegte, schlanke Figur. Jetzt hatte ich den Eindruck, als würde es sie nicht mehr kümmern. Ihre Haare, die sie früher immer bürstete, damit sie schön glänzten, waren struppig. Diese Veränderungen hätten mich beunruhigt, wenn ihr Verstand nicht so klar und scharf wie immer gewesen wäre. Es war ein großes Vergnügen, abends noch mit ihr herumzusitzen und zu reden.
In Laures Anwesenheit war es allerdings nicht leicht, ein Gespräch zu führen. Heute Abend konzentrierten wir uns ganz auf unsere Arbeit, nicht auf Wörter. Das einzige Geräusch im Zimmer war das regelmäßige Zischen und Knacken der Holzstücke im Feuer und das Klappern unserer Stricknadeln. Ich drehte die Ferse der Socke, an der ich gerade strickte, und legte sie flach auf meinen Schoß. Ich war viel langsamer als Miss Skerry, die ihr dickes hellbraunes Paar schon fast fertig hatte. Laure, deren Konzentrationsfähigkeit sonst so begrenzt war, dass sie Schwierigkeiten hatte, einen Satz zu Ende zu bringen, war ebenfalls fast fertig. Wenn sie etwas mit den Händen machte, wurde sie ruhiger, und man ahnte etwas von ihrer früheren Anmut. Sie und Miss Skerry strickten, und sie bestickten Laken und Tischdecken. Sie näh ten Kleider und Umhänge. Vor dem Krieg war ich die Nutznießerin ihres Fleißes gewesen.
Aber zurzeit wurden nur noch Socken gestrickt. Bei Laure hatte sich das zu einer richtigen Besessenheit entwickelt. Seit dem Herbst 1914, also seit Beginn der Strick-Kampagne, hatte sie dreihundert Paar gestrickt.
Ich war längst nicht so begabt wie meine Schwester. Ich wedelte mit meinem missglückten Werk vor Miss Skerry herum und lachte. »Ich habe zwei linke Hände, George.« Es war mir peinlich, sie mit diesem Namen anzureden, aber Miss Skerry bestand darauf. Wir würden einander jetzt schon so lange kennen, hatte sie gesagt, da könne ich unmöglich weiterhin »Miss« zu ihr sagen. Ihr Taufname war Georgina, und sie hatte einfach die letzten beiden Silben fallen lassen. »Wie George Eliot«, erklärte sie. »Und George Sand. Es gibt nicht viele Clubs, zu denen ich gehören möchte, Agnes, aber ich hätte nichts dagegen, mich den beiden
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