Das Geheimnis der Herzen
entdeckte in der langen Reihe von Männern ein vertrautes Gesicht. Huntley Stewart. Fröhlich plauderte er mit ein paar alten Freunden von der Zeitung. Sie passten nicht richtig auf, und es entstand eine Lücke, weil sich die Schlange ohne sie weiterbewegte. Huntley bemerkte es als Erster, fuchtelte mit der Hand und zog eine übertriebene Grimasse, als würde er furchtbar erschrecken. Dann rannte er los. Seine Freunde folgten ihm, wie Schafe.
Huntley Stewart hatte sich also gemeldet. Mir war schon aufgefallen, dass sich weniger Männer in Montreal aufhielten. In der Straßenbahn hatte der Fahrer die Haare mit Nadeln hochgesteckt. Frauen als Straßenbahnfahrer – was kam als Nächstes? In Verdun war vor Kurzem eine Waffenfabrik eröffnet worden, und der Herald hatte berichtet, die meisten Arbeiter dort seien Frauen. Das Gehalt liege bei fünfunddreißig Cent in der Stunde. Das war mehr, als ich an der McGill verdiente.
Laure hatte keine Ahnung, dass Huntley fortging. Theoretisch waren die beiden noch verheiratet. In Wirklichkeit hatten sie seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt.
Ein Herald -Fotograf machte Bilder von den winkenden Frauen. Er wählte ein besonders hübsches Mädchen aus, das direkt neben mir stand. Die junge Frau trug ein leuchtend gelbes Kleid, und er wollte sie interviewen. »Was empfinden Sie?«, rief er über den allgemeinen Lärm hinweg. »Was empfinden Sie, wenn Sie die Männer gehen sehen?«
Das Mädchen gab eine ziemlich banale Antwort, irgendetwas vom König und dass die Menschen Opfer bringen müssen. Solche Plattitüden gaben alle Leute gern von sich – Sätze, die sie wortwörtlich aus der Zeitung oder aus Politikerreden übernahmen. Dann erzählte die junge Frau von ihrem Strick-Club. Seit Oktober habe sie zwanzig Paar Socken für die Männer in Übersee gestrickt. Jeder müsse einen Beitrag leisten, sagte sie.
»Sind Sie wegen eines ganz bestimmten Menschen hier?«, fragte der Reporter.
Die junge Frau wurde rot. Und nickte.
»Haben Sie Angst um ihn?«
Hier gehe es nicht um Angst, erklärte sie automatisch. Sie wusste genau, was sie sagen musste, ihre Antworten klangen wie auswendig gelernt, so naiv! Sie vermochte sich nicht vorzustellen, dass der junge Mann, in den sie verliebt war, verwundet werden oder sterben könnte.
Jetzt wandte sich der Reporter mir zu. »Und Sie … haben Sie auch jemanden, den Sie verabschieden müssen?«
Wieder ertönte das Schiffshorn, was mir die Antwort ersparte. Gemeinsam mit allen anderen schaute ich zu, wie die letzten Männer an Bord gingen. Ein krummer Rücken, der mir irgendwie bekannt vorkam, ließ mich erstarren. Er war gekleidet wie alle anderen – Kampfstiefel und eine graubraune Jacke –, aber selbst in Uniform fügte er sich nicht ein. Im Augenblick schien er sich nur auf seine Zigarette zu konzentrieren. Die anderen machten Witze und unterhielten sich lebhaft, während sie darauf warteten, ihre Seesäcke den Landungssteg hinauftragen zu können. Jakob Hertzlich stand zwischen ihnen, still und stumm, er gehörte nicht dazu.
Ich schloss die Augen. Zehn Jahre war es her. Ich war inzwischen sechsundvierzig, also musste er achtunddreißig sein. Ziemlich alt für die Armee, aber eine verblüffend große Zahl von Rekruten hatte ihre Glanzzeit schon hinter sich – auch Dugald. Jakob und ich hatten seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Er arbeitete in einem anderen Gebäude der McGill, und unsere Wege kreuzten sich nur selten.
Ich versuchte, mir Jakob mit einer Waffe in der Hand vorzustellen. Vielleicht musste er ja nie eine anfassen, wenn er die ganze Zeit im Lazarett blieb. Manche Männer waren für das Schlachtfeld geboren, andere eindeutig nicht. Warum hatte ich ihn nicht früher entdeckt? Auch wenn wir uns schon lange aus dem Weg gingen, hätte ich mich gern von ihm verabschiedet und ihm alles Gute gewünscht.
»Ma’am?« Der Reporter stand immer noch vor mir.
Ich schüttelte den Kopf. Am Landesteg drückte Jakob die Zigarette mit dem Absatz seines glänzenden Stiefels aus und nahm sein Gepäck. Doch dann schaute er sich plötzlich um. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich unsere Augen. Ich wandte als Erste den Blick ab und schaute kurz nach rechts und nach links, um zu prüfen, ob da vielleicht jemand stand, dem Jakobs Suche galt. Aber links von mir war das gelb gekleidete Mädchen mit den auswendig gelernten Antworten und rechts der Reporter. Als ich wieder zu Jakob blickte, wandte er mir schon den
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