Das Geheimnis der Herzen
anzuschließen.«
George lächelte über meine Strickkünste. »Du tust doch schon deine Pflicht und Schuldigkeit, Agnes. Socken sind nicht die einzige Art, wie man helfen kann.«
Das stimmte. Auch ich leistete meinen Beitrag, allerdings in einer weniger direkten Form. Ich sorgte nicht dafür, dass die kanadischen Jungen in den Schützengräben warme Füße hatten, aber ich war an zwei Krankenhäusern in Montreal angestellt, und meine Praxis quoll über von Patienten. Im Herbst war ich in Harvard gewesen und hatte an der Universität einen Vortrag über angeborene Herzfehler gehalten. Die medizinischen Fakultäten in den Vereinigten Staaten blühten und gediehen, denn Amerika war noch nicht in den Krieg eingetreten. Ich gehörte zu einer Handvoll ausländischer Wissenschaftler, die noch für Amerikareisen zur Verfügung standen. Bis jetzt hatten mich Harvard, Johns Hopkins und Philadelphia eingeladen. Ich hatte die Angebote abgelehnt, außer dem von Harvard, weil ich zu sehr beansprucht war von meiner klinischen Arbeit.
»Socken sind eine lokale Spezialität«, sagte George und tätschelte Laures Bein.
Laure blickte hoch, so stolz, dass ich lachen musste. Ich empfand es als ungeheuer tröstlich, mit den beiden in der Priory zu sitzen und mich simplen Dingen zu widmen. Das erinnerte mich an die Schwestern Brontë, die isoliert in der Heidelandschaft von Yorkshire lebten, ihre Hausarbeit machten und sich abends als Belohnung den Büchern und den Gesprächen zuwandten. Vielleicht würde so mein Lebensabend aussehen: mit Laure stricken und mit George Skerry diskutieren. Ich hatte zwar gehofft, mein Leben würde etwas interessanter und offener verlaufen, mit Beziehungen, die über den Kreis meiner Kindheit hinausgingen, aber es gab sicher Schlimmeres.
Miss Skerry übersetzte die Aeneis aus dem Lateinischen und führte damit die Arbeit fort, zu der ihr Vater sie angeregt hatte. Die Sprache gefiel ihr, aber sie gestand, dass sie insgesamt in Bezug auf Vergil gemischte Gefühle hatte. »Er liebt den Krieg zu sehr«, hatte sie am Abend zuvor gesagt, während wir zuschauten, wie die Glut im Kamin verglomm.
Ich hatte mehr Ähnlichkeit mit Vergil, als ich mir eingestehen wollte. Das Töten unterstützte ich natürlich nicht, aber ich sehnte mich danach, mit den Männern in den Krieg zu ziehen. Ich beneidete meine Kollegen an der Front und bedauerte es, dass ich nicht bei ihnen in Europa sein konnte. Dugald schrieb mir jede Woche, schilderte Szenen des Lagerlebens am Rande von Dannes-Camiers in Nordfrankreich, wo er und andere Mitglieder der McGill stationiert waren.
Den ganzen Sommer und Herbst hindurch hatte ich also Berichte aus erster Hand erhalten. Die Kampfhandlungen an der Westfront hatten nachgelassen. Der wichtigste Kriegsschauplatz war jetzt die Türkei. In Frankreich war es relativ ruhig. Der Sommer 1915 war der trockenste seit Menschengedenken gewesen. Dugald beschrieb lange, sonnige Tage. Für mich beschwor das Wort »Krieg« folglich Bilder von jungen Männern herauf, die halb nackt am Flussufer lagen. Ach, wie ich sie um ihre Kameradschaft unter der Sonne der Picardie beneidete!
Die McGill organisierte eines von sieben provisorischen Zeltlazaretten, die auf der Ebene bei Dannes-Camiers eingerichtet worden waren. Es hatte fast tausend Betten, ungefähr gleich viele wie die Zelte von England, Schottland und Frankreich. Sie waren Ende des Frühjahrs aufgestellt worden, gleich nach der Ypern-Schlacht. Alle wollten, dass es endlich zu einer Entscheidung kam, aber es gab nur ein paar Heckenschützenopfer. Man sprach von einer Art Pattsituation, und dem medizinischen Personal blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Nach Dugalds Bericht zu urteilen, benahm sich Revere Howlett wie ein Schuljunge in den Ferien. Er ließ sich sofort von zu Hause sein Fahrrad schicken und verbrachte die Zeit hauptsächlich damit, in den Flüssen der Umgebung zu angeln. Jakob Hertzlich hatte auch seinen Spaß. Er und Revere waren Freunde geworden. Fasziniert las ich diesen Teil von Dugalds Brief noch einmal. Durch die regelmäßigen Mahlzeiten und die körperliche Betätigung war Jakob Hertzlich offenbar richtig aufgeblüht. Er hatte sich im Dorf ein rostiges altes Fahrrad gekauft, damit er Revere bei seinen Ausflügen begleiten konnte.
Im September überquerte Howlett senior den Kanal, um die Abgesandten der McGill zu besuchen und um seinen Sohn zu sehen. Das war zu viel für mich. Dugalds Beschreibungen machten mich so neidisch!
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