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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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damals nicht bewusst, wie glücklich ich war. Glück ist etwas Seltsames. Es ist etwas, das ich meistens erst erkenne, wenn es vorbei ist, und zwar dann, wenn ich merke, dass ich mich danach zurücksehne.
    In Miss Skerry fand ich eine Gefährtin, die ebenso von intellektuellem Hunger getrieben war wie ich. Ich hatte noch nie einen Menschen wie sie kennengelernt, und es befreite mich auf eine Art und Weise, über die ich heute noch staune. Obwohl ich es mit dreizehn noch nicht wissen konnte, war sie, als sie in der Priory erschien, um mich in ihre Obhut zu nehmen, eine vom Himmel gefallene Mentorin, so wie Athene in der Odyssee für den vaterlosen Telemachos. Es war Miss Skerrys Idee, dass ich St. Andrews East verlassen sollte. Sie entwickelte diesen Plan und arbeitete unermüdlich auf seine Verwirklichung hin, obwohl sie wusste, dass es für uns die Trennung bedeutete. In dem Jahr, als ich fünfzehn wurde, verkündete Miss Skerry, sie habe mich jetzt alles gelehrt, was sie mich lehren könne. Sie habe selbst Bildungslücken – Algebra und Geometrie –, und die würden auch bei mir klaffen, wenn ich nicht von der Priory fortginge und in eine richtige Schule käme.
    Sie brüstete sich nicht damit, wie ausgezeichnet sie mich in vielen anderen Bereichen vorbereitet hatte. Meine besondere Stärke war Naturkunde. Das war unsere gemeinsame Leidenschaft. Aber Miss Skerry hatte mir auch eine Menge über Literatur und Geschichte beigebracht. Ich war im Englischen wie im Französischen ziemlich belesen und verfügte über solide Kenntnisse in den toten Sprachen – Latein und Griechisch –, die Miss Skerry von ihrem Vater gelernt hatte.
    Kurz bevor ich fünfzehn wurde, fand Miss Skerry eine Lehranstalt, die ihr für mich geeignet schien – die Schule der Misses Symmers und Smith in Montreal. Sie sorgte dafür, dass ich dort die Aufnahmeprüfung machen konnte. Sie saß mit mir im Zug, wartete drei Stunden auf dem Gang, während ich die Prüfungsarbeiten schrieb, und als mir ein Vollstipendium zugesprochen wurde, redete sie so überzeugend auf Großmutter ein, dass die nicht anders konnte, als einzuwilligen.
    Also wohnte ich ab Juni 1884 in einem winzigen Zimmer mit einem langen Riss in der Decke, der sich verästelte wie das Nildelta. Im Bett neben mir schlief schnarchend ein Mädchen namens Janie Banks Geoffreys. Sie lag auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt, und die Bettdecke hatte sie weggestrampelt. Leise brummelte sie vor sich hin und seufzte tief. Janie war das hübscheste und beliebteste Mädchen meines Jahrgangs in der Schule der Misses Symmers und Smith. Ich konnte ihren Anblick nicht ertragen.
    Acht lange Monate tolerierten Janie und ich einander. Im September hatte man uns in der optimistischen Annahme zusammengelegt, dass sie mir die Integration ins Sozialleben der Schule erleichtern würde und ich ihr beim Lernen helfen könnte, weil ich bei der Aufnahmeprüfung so brillante Leistungen gezeigt hatte. Der Weg zur Hölle ist mit optimistischen Annahmen gepflastert.
    Jetzt war Juni, und sowohl der Deckenriss als auch meine Zimmergenossin würden bald der Vergangenheit angehören – ein Gedanke, der mich aufmunterte. Am Mittag erhielten wir unser Abgangszeugnis, im Rahmen einer Feier, zu der unsere Angehörigen eingeladen waren. Großmutter, Laure und Miss Skerry, die während des Schuljahrs Laure zu Hause in St. Andrews East unterrichtet hatte, wollten kommen. Später dann würden wir alle vier in den Sechs-Uhr-Zug steigen, an der Windsor Station, und dieses bittersüße Kapitel meines Lebens würde sich für immer schließen.
    Ich schaute auf meine Taschenuhr, ein schweres, altes Ding, das ich von Großvater White geerbt hatte. Zehn Minuten vor sechs. Ich hatte nur noch eine gute Stunde, bis die Weckglocke ertönte und uns alle, auch meine Zimmergenossin, mehr oder minder wach rüttelte. Ich setzte die Brille auf, die ich besaß, seit Miss Skerry an Ostern festgestellt hatte, dass ich keinen halben Meter weit richtig klar sehen konnte. Zuerst hatte mir das Gestell in die Nase geschnitten, aber ich hatte den Steg mit Stoff umwickelt und so lange an den Bügeln herumgebogen, bis sie lockerer saßen. Jetzt merkte ich die Brille kaum noch. Und wie sich die Welt verändert hatte! Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland, die aus dem Kaninchenbau in den reizendsten aller Gärten stolpert.
    Plötzlich sah ich Janies Gesicht ganz genau, und selbst das war auf seine Art angenehm. Vor der Brille hatte ich immer

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