Das Geheimnis der Herzen
war mehr als deutlich, dass sie nicht reden wollte, also ging ich zum Bücherregal. Die Anzahl der Bücher hatte sich vermehrt, seit Miss Skerry wieder hier wohnte. Meine alte Gouvernante nahm ihre Vergil-Ausgabe, setzte sich aufs Sofa und blätterte im Vierten Gesang, in dem es um die flammende Liebe von Königin Dido ging.
Etwa eine halbe Stunde später wurde das Feuer wieder klein, und George erhob sich. »Du weißt inzwischen sicherlich, dass es nicht möglich ist, ein Leben von außen zu beurteilen, Agnes.« Ihre Stimme hatte eine gewisse Schärfe. »Man irrt sich immer. Zwangsläufig.« Ihr Gesicht war halb von mir abgewandt und nur von der matten Glut angestrahlt, wodurch ich ihre Miene nicht richtig deuten konnte.
»Ich wollte Sie nicht kritisieren«, sagte ich. »Ganz im Gegenteil.«
Es folgte eine lange Pause, und als George etwas erwiderte, klang sie wesentlich sanfter. »Ich bin glücklich und zufrieden hier, Agnes. Ich habe meine Freuden.« Sie tätschelte den abgegriffenen Buchdeckel. »Ich bin bei Menschen, denen ich mich verbunden fühle.« Ihre Stimme bebte leicht. Vielleicht vor Müdigkeit. Oder vom Rauch in ihrer Kehle. Oder vielleicht auch vor Ergriffenheit.
23
August 1917
D ie Nachmittagssonne flutete durchs Fenster und schien auf die Papiere, die ich um mich herum auf dem Fußboden ausgelegt hatte. Sie erleuchtete den Tisch, auf dem sich Gläser und Wachs-Rekonstruktionen, Röntgenaufnahmen und Tabellen sammelten. Sie brachte Farbe auf meine Hände, meinen Hals und auf meine Stirn, die vom stundenlangen Ordnen ganz zerfurcht war. Ihre Strahlen waren sehr warm, deshalb ließ ich mich aus der Hocke nach hinten sinken und lehnte mich in den Schatten.
Schließlich stand ich auf, um die Jalousie herunterzuziehen. Meine Knie wären beinahe unter mir eingeknickt, sie fühlten sich an wie abgestorben. Ich setzte mich auf den Rand eines Laborhockers und knöpfte meinen Kragen auf. Der kleine Raum ganz oben im neuen Medizintrakt befand sich direkt unter dem Kupferdach. Hier staute sich die Hitze.
Niemand sonst auf dem Campus arbeitete während der Monate Juli und August so hartnäckig durch. Die meisten meiner Kollegen waren sowieso in Übersee, aber selbst diejenigen, die in Montreal geblieben waren, flohen im Sommer aus der Stadt. Der schreckliche alte Dr. Daimler, der Dr. Clarke als kommissarischer Leiter der medizinischen Fakultät ersetzte, hatte sein spitzes Gesicht den ganzen Juli über nicht blicken lassen. Ich hätte eigentlich froh darüber sein müssen, aber die Sekretärinnen waren ebenfalls fort, was ich sehr bedauerte. In den Pausen besuchte ich sie sonst immer sehr gern und plauderte mit ihnen. Sogar der Hausmeister, ein Mann namens Cook, den alle nur den »König« nannten, weil er so von sich selbst eingenommen war, machte Urlaub. In ein, zwei Wochen würden die Leute langsam zurückkehren, jedoch ohne großen Druck. Der neue Jahrgang war winzig. Wenn der Krieg noch länger dauerte – und dafür sprach vieles –, würde sich die medizinische Fakultät gezwungen sehen, auch Frauen aufzunehmen. Vielleicht war ja doch etwas dran an Miss Skerrys Überlegungen.
Für mich war es Ehrensache, jeden Morgen um acht Uhr in der McGill zu sein und meinen Arbeitstag zu beginnen. Das gab meinem Leben eine Struktur. Und zu tun gab es genug. Ich hatte gerade eine Broschüre über Florence Nightingale abgeschlossen, die vor Kurzem im Alter von neunzig Jahren gestorben war. Ein Londoner Verlag hatte Interesse signalisiert, vor allem, nachdem ich angedeutet hatte, sämtliche Einnahmen würden dem Roten Kreuz zugutekommen. Ich hatte eine Einladung der New Yorker Academy of Medicine angenommen. Ende des Monats sollte ich dort einen Vortrag halten. In den Vereinigten Staaten war ich eine Art Berühmtheit geworden. Man kannte mich inzwischen, aber, wie mir schien, aus Mangel an Alternativen. Es gab auf kanadischem Boden nur noch wenige Wissenschaftler, und ich gehörte zu der kleinen Handvoll von Menschen, die noch Grundlagenforschung betrieben.
Der Vortrag, den ich plante, war ehrgeizig, die Krönung meiner Forschungsjahre. Ich hatte die Präparate zusammengetragen, die ich bei meiner Lehrtätigkeit und für Veröffentlichungen verwendet hatte. Ich plante etwas völlig Neues. Das traditionelle Ablesen verstaubter Berichte interessierte mich nicht mehr. Ich wollte mein Publikum aufrütteln, die Zuhörer sollten mir wie gebannt lauschen.
Was ich vorbereitet hatte, war eine Darbietung über das Herz,
Weitere Kostenlose Bücher