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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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zerfetzt. Sie waren ein Geschenk aus Indien gewesen, also aus einem Land, in dem die Hersteller keine Ahnung hatten, wie gnadenlos der französische Herbst sein konnte. Beim ersten großen Regen hatten sich die Auflösungserscheinungen bereits bemerkbar gemacht. Die Baumwollschnüre, mit denen die Zelte im Boden verankert waren, begannen zu schrumpfen und zogen die Pflöcke aus der Erde. Der Leinenstoff riss. Matsch quoll durch die Bodenbretter, es regnete herein, Betten und Kleidung wurden nass. »Sie haben das Lazarett am Ende geschlossen!«, rief ich und blickte hoch.
    Dugald hatte daraufhin entschieden, an die Front zu gehen. Die meisten jungen Männer, unter ihnen auch Revere Howlett, wollten das sowieso. Jakob Hertzlich, der ja schon etwas älter war, entschied sich hingegen für England und suchte dort Arbeit als Krankenpfleger. Anscheinend dachte keiner daran, nach Hause zu gehen.
    »Sie werfen ihr Leben fort«, murmelte George Skerry.
    Ich schaute sie an. Manchmal war sie so offen und direkt, dass es mich richtig ärgerte.
    »Stimmt doch!«, fuhr sie fort. »Es ist schon schlimm genug, dass in manchen Ländern die jungen Männer gezwungen werden, in den Krieg zu ziehen. Aber diese hier rennen freiwillig in den Tod.«
    »Ich würde das auch tun, wenn ich es könnte«, erwiderte ich.
    George Skerry schaute mich an. »Unsinn! Siehst du denn nicht, wie gut es uns geht? Siehst du nicht, dass ein Krieg eine der wenigen Zeiten ist, in denen das Frausein ein Privileg ist und kein Fluch?«
    Ich schwieg. Der Krieg war für mich, was meine Arbeit betraf, sehr von Vorteil gewesen, aber mein Privatleben hatte er fast völlig zerstört. Außer George Skerry gab es nicht viele Frauen, deren Gesellschaft ich genießen konnte. Ich war oft einsam. Ich vermisste Dugald Rivers, Dr. Clarke, ja, sogar Mastro. Ich vermisste meine Studenten. Und – ich wollte es selbst nicht glauben, dass ich so tief sinken konnte – ich hätte mich sogar gefreut, Jakob Hertzlich wiederzusehen.
    »Schau dir uns an«, sagte George. »Wir wärmen uns die Füße am Kamin, während unsere jungen Männer in der Frem de sterben.«
    Laure blickte verständnislos von ihrem Strumpf auf. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
    »Agnes«, sagte Miss Skerry lebhaft. »Unsere Arbeit wird zum ersten Mal in der Geschichte geschätzt und gebraucht. Nimm doch nur dich selbst als Beispiel. Überleg mal, was du im vergangenen Jahr alles erreicht hast. Ohne den Krieg hätte Harvard dich niemals eingeladen.« Sie schwieg, als sie mein Gesicht sah. »Nicht, weil es dir an Talent fehlt. Das weißt du selbst. Aber unter normalen Umständen hätte Harvard einen Mann eingeladen. Der Krieg hat dir ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Du hast sie ergriffen und dein Licht leuchten lassen.«
    Ich schaute auf die Socken, die auf Georges Schoß lagen. Sie waren erstklassig gestrickt, keine Masche zu locker oder falsch. Irgendein Junge, den George Skerry nie gesehen hatte, würde höchstwahrscheinlich in diesen Socken sterben. Sie wickelte die restliche Wolle auf und legte sie in den Strickkasten. Ihre Argumentation versagte bei ihrem eigenen Leben. Sie konnte nicht behaupten, dass der Krieg ihr in irgendeiner Weise genutzt hatte. Sie verbrachte ihre besten Jahre hier mit Laure, abgeschnitten von der Welt, und strickte Socken für Tote.
    Als wir am Abend Laure ins Bett gebracht hatten, hielt ich Miss Skerry zurück und legte ihr die Hand auf den Arm. »Sie langweilen sich hier nicht, oder, George?«
    Wir standen im Korridor im oberen Stockwerk, vor Laures Zimmer. George wich einen Schritt zurück. Laure zu baden oder sie zu bändigen, wenn sie tobte, war eine Sache – das gehörte zu ihren Aufgaben. Aber eine intime Geste unter Gleichgestellten war etwas völlig anderes. »Langeweile ist etwas für langweilige Leute«, sagte sie schnell.
    Ich seufzte. Manchmal verwandelte sie sich wieder in meine Gouvernante und baute durch kluge Sprüche eine klare Distanz zwischen uns auf. Ich nahm noch einmal Anlauf, während wir zur Treppe gingen.
    »Träumen Sie nicht manchmal von mehr?«
    Sie schaute mich an, ihre Augen vergrößert durch die Brille. Ihr Blick war so unverstellt, dass ich wegsehen musste. Ich ging weiter, um meiner alten Freundin die Chance zu geben, sich zu sammeln. Im Wohnzimmer war das Feuer zusammengesunken zu einem Häufchen Kohlen, die mit Asche bedeckt waren. George Skerry kniete nieder und pustete. Sie schaffte es, der Glut noch eine Flamme zu entlocken. Es

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