Das Geheimnis der Herzen
Cornedbeef und wurmigen Zwieback. Das war die gute Nachricht.
Mrs Greaves blieb der Mund offen stehen. »Er ist doch hoffentlich nicht verwundet!«
Er sei noch heil, aber nur einigermaßen. Seine Lunge sei kaputt. Bei Passchendaele habe seine Einheit Giftgas abbekommen, und in Verbindung mit dem ständigen Regen habe ihn das zur Strecke gebracht. Er habe so schlimme Asthmaanfälle bekommen, dass alle dachten, er würde nicht überleben.
Mir wurde eng in der Brust. Seit über einem Jahr berichtete Rivers so grauenvolle Dinge, dass ich kaum noch Illusionen hatte, was den Sinn und Zweck des Krieges betraf. Er hatte geschildert, wie die Deutschen mit Maschinengeweh ren die jungen Soldaten der Alliierten niedermähten, ein Bataillon nach dem anderen. Die Kanadier besaßen nur Flinten, und auch noch ziemlich schlechte, die bei feuchter Wit terung blockierten. Ein tödlicher Mangel. Unsere jungen Männer krepierten reihenweise, während sie dabei waren, ihre Waffen nachzuladen. In einem unvergesslichen Brief beschrieb Dugald das Gas, das die Deutschen einsetzten. Es hing als gelbe Wolke über den Schützengräben und zerfraß die Lungen der Männer. Man wurde außerdem blind davon, aber das Hauptziel waren die Lungen, die sich mit Eiter füllten. Gasopfer starben einen qualvollen Tod, sie erstickten an ihren eigenen Sekreten. In all seinen Jahren als Mediziner, schrieb Dugald, habe er nie etwas derart Entsetzliches gesehen.
Nur wenige Briefe dieser Art erreichten die Menschen hier in Kanada. Dugald war ein besonders ehrlicher Korrespondent und hatte einen Blick fürs Detail, wie alle Künstler. Er war zwar ein überzeugter Patriot und vertraut mit den militärischen Gepflogenheiten, doch zuerst und vor allem war er Humanist, und das Leiden, dem die Männer an der West front ausgesetzt waren, empörte ihn zutiefst. In den vier Jahren des Burenkriegs, so schrieb er mir, waren insgesamt vierundzwanzig Kanadier ums Leben gekommen. Das Blutvergießen in diesem Krieg hatte eine vollkommen neue Dimension. Wenn Dugalds Vorgesetzte geahnt hätten, was in seinen Briefen stand, wäre der Inhalt mit Sicherheit zensiert worden. Zum Glück war er klug genug, keinen Verdacht zu erregen. Von außen betrachtet wirkte er genauso stoisch und gelassen wie alle anderen Soldaten.
Er hatte also selbst Giftgas abbekommen. Seine Lunge sei ja ohnehin immer sehr schwach gewesen, aber jetzt funktioniere sie kaum noch, schrieb er. Immerhin konnte er einen Füller halten, das war beruhigend, aber ich hoffte, dass er nicht von seinem Sterbebett schrieb.
»›Passchendaele‹«, las ich Mrs Greaves vor, »›war wie die Somme, genau das Gleiche noch einmal von vorn. Es regnete unaufhörlich, die Felder verwandelten sich in Sümpfe. Man hatte das Gefühl, dass nicht nur die Moral der Männer, sondern auch das Land selbst sich auflöste und starb. Alles war kahl, nirgends ein Baum, kein Gras und auch sonst nichts Grünes irgendwo, nur Schlamm und Matsch, zerklüftet von Granaten, gepflügt, aber nicht für die Saaten, sondern für Schützengräben.‹«
»Dieser Mann ist ein Dichter«, murmelte Mrs Greaves und tupfte sich die Augen. »Ich hätte nie gedacht, dass er so schreibt.« Dann entfaltete sie ihr Taschentuch und putzte sich die Nase.
Während ich vorlas, wie er beschrieb, dass die Männer dort liegen blieben, wo sie fielen, den deutschen Kugeln und Granaten schutzlos ausgeliefert, wurde Mrs Greaves ganz still. »›Ihre Haut fällt langsam ab‹«, las ich. »›Sie hocken oder stehen in den Schützengräben zwischen den anderen Überresten der Kämpfe – zwischen Stahlhelmen, Gewehren, Granatenhülsen.‹«
Mrs Greaves schaute verzweifelt. »Hören Sie auf, Dr. White. Bitte! Das ist zu grausam.«
Schweigend tranken wir unseren Tee aus. Mrs Greaves hatte jetzt ein angespanntes, verkniffenes Gesicht, und ich war schuld daran. Sie erhob sich, kaum dass sie ihre Tasse ausgetrunken hatte. »Mein Alex ist nicht so schreibbegabt«, sagte sie noch. »Aber vielleicht ist das auch besser so.«
Ich wandte den Blick ab. Dugalds Brief hatte Mrs Greaves nicht getröstet, im Gegenteil. Für manche Menschen ist Wissen schwer zu ertragen. Aber wie konnte man seinem Sohn beistehen, wenn man nicht wenigstens andeutungsweise wusste, was er durchmachte? Die jungen Männer auf der anderen Seite des Ozeans konnten sich nicht einfach die Ohren zuhalten und die Augen schließen. Warum sollten wir es dann tun?
Ich war dankbar. Durch Dugalds Briefe hatte ich die
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