Das Geheimnis der Herzen
mit der ich die Sinne ansprechen wollte und nicht nur den Verstand. Ich besaß Material, das acht graue Papptafeln füllte, die eine Wandfläche von einem Meter zwanzig mal zehn Meter bedeckten. Etwas unpraktisch auf Reisen, aber wenn ich die Tafeln angebracht hatte, verschlug es einem den Atem.
Vor mir lagen meine Schätze: eine Sammlung von Jakob Hertzlichs Herzfehler-Zeichnungen, zweiundvierzig Photos von Präparaten, vierundzwanzig Röntgenaufnahmen, eine Anzahl von durchgepausten Bildern, siebzehn Statistiken und doppelt so viele Diagramme. Auf dem Tisch standen außerdem fünfzig Präparate, welche die häufigsten Herzfehler und Anomalien aufwiesen, aber auch eine Handvoll Reptilien- und Fischherzen war darunter, an denen man den evolutionären Prozess aufzeigen konnte. Bei Fällen, für die ich kein Präparat besaß, hatte ich Wachs-Rekonstruktionen angefertigt.
An meinen Schreibtisch gelehnt war eine Tafel mit Statistiken, die die speziellen Kennzeichen von tausend angeborenen Herzfehlern und Obduktionen zeigten. Das Material war ursprünglich in Howletts Lehrbuch veröffentlicht worden und somit der Eckstein meines Ruhms. Aber jetzt wollte ich dies weiter ausbauen. Ich war nicht nur eine einfache Forscherin – »Howletts Lakai«, wie Jakob Hertzlich mich genannt hatte –, ich suchte nicht nur in seinem Schatten die Resultate seiner Arbeit zusammen. Jetzt trat ich selbst ins Rampenlicht. Und zwar in großem Stil.
Unter den Papieren, die auf dem Fußboden herumlagen, war auch ein Zettel, der meinen Vortrag ankündigte. Herzspezialistin stand da, mit meinem Namen und meinen akademischen Graden. Diese Ankündigung sollte in allen größeren amerikanischen Tageszeitungen der Ostküste veröffentlicht werden. Tausende von Menschen würden sie sehen, und vielleicht war einer von ihnen mein vermisster Vater. Natürlich, ich hieß anders, aber er würde doch sicher den Mädchennamen seiner Frau erkennen und den Vornamen, den er für mich ausgewählt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo mein Vater lebte. An den medizinischen Fakultäten in Kanada hatte ich mich nach ihm erkundigt, ebenso wie an den großen amerikanischen Universitäten. Aber ohne Erfolg. Vermutlich führte er eine Praxis in einer Kleinstadt in Neuengland, wohin viele Frankokanadier ausgewandert waren. Ich nahm an, dass er noch praktizierte. Die Medizin war sein Leben.
Immer wenn ich einen Artikel veröffentlichte und meinen Namen im Druck sah, wie jetzt bei dieser Bekanntmachung, überkam mich die Hoffnung, Honoré Bourret könnte es mitbekommen. Das war mein ganz großer Traum.
Auf dem Tisch neben mir befand sich eine Sammlung von Fallstudien, ordentlich getippt und sortiert. Ich würde mein Publikum an die Hand nehmen und es durch den gesamten Diagnose-Prozess führen. Ärzte waren immer noch erstaunlich unwissend, wenn es darum ging, Herzgeräusche und Schwirren zu deuten. In meinen Jahren der klinischen Praxis hatte ich gelernt, dass man am besten Zugang zum Herzen fand, wenn man auf seine Geräusche achtete. Bestimmt würden eines Tages feinere diagnostische Instrumente entwickelt werden, aber jetzt war das Wichtigste, dass man aufmerksam horchte. Natürlich machte das Elektrokardiogramm rapide Fortschritte. Im Montreal General Hospital gab es solch ein Gerät – aber im Moment wusste kein einziger Arzt dort, wie man es bediente. Das menschliche Ohr war immer noch das ideale Werkzeug. Wenn sich jemand die Zeit nahm, genau hinzuhören, gab das Herz seine Geheimnisse preis.
Meine erste Fallstudie war ein sechsjähriger Junge, der mit einer Schwellung am Hals ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Die Schwellung selbst hatte nichts mit seinem Herzen zu tun – wie sich herausstellte, war es ein tuberkulöser Knoten. Doch in dem Moment, als ich mein Ohr an seine Brust legte, wusste ich Bescheid. Es gab keinerlei äußere Anzeichen. Seine Finger waren nicht geschwollen, seine Haut war nicht verfärbt. Der Lungenbereich war klar und der Blutdruck normal. Doch mein Stethoskop enthüllte mir das vernichtende Urteil. Das Geräusch war unüberhörbar, es hallte in seinem schmalen Brustkorb wider. Im gesamten Perikard und hinter beiden Schulterblättern. Als der Junge zwei Jahre später starb, bestätigte sich meine Diagnose. Das Loch in seinem Ventrikelseptum, also der Trennwand zwischen rechter und linker Hauptkammer, war so groß wie eine Fünf-Cent-Münze.
Beim zweiten Fall ging es um ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen Eltern mich
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