Das Geheimnis der Herzen
konsultiert hatten. Sie hatte sichtbare Geburtsfehler: ein gekrümmtes Rückgrat und einen Klumpfuß. Ihre frühkindliche Entwicklung war normal verlaufen, aber kurz vor ihrem Besuch bei mir hatten die Eltern beobachtet, dass die Lippen des Mädchens blau wurden, wenn sie rannte oder auch nur schnell lief. Sie war zierlich und klein für ihr Alter und eindeutig noch präpubertär. Eine generelle Zyanose, also eine Blaufärbung der Haut, lag nicht vor, die Finger waren nicht verdickt, und sie litt auch nicht an Atemnot. Mitten in der Brust hörte ich allerdings das Klicken und stellte augenblicklich die Diagnose.
Die Schwestern im Krankenhaus bezeichneten mich als Hexe. Über das Herz war wenig bekannt, und meine Diagnosen kamen ihnen vor wie Zauberei. Dabei schaute ich nur genau hin und lauschte. Was für andere wie Magie aussah, war lediglich der sorgfältige, versierte Gebrauch von Ohren und Augen.
Nachdem die Diagnose gestellt war, konnte ich jedoch nichts mehr tun. Das war das Problem bei Herzfehlern: Heilung gab es nicht. Meine Patienten waren zu einem kurzen Leben voller Qualen verurteilt. Der Junge mit dem Loch im Ventrikelseptum starb mit acht Jahren. Sein Herz befand sich nun in einem Glas auf einem Regal. Und zur gegebenen Zeit würde ich auch das Herz des Mädchens in meine Sammlung aufnehmen, falls die Eltern damit einverstanden waren.
Ich blickte kurz von meinen Notizen auf. Um mich herum lauter Herzen, seziert und präpariert. Herzen mit Löchern. Herzen mit undichten Klappen oder verdickten Wänden. Herzen mit verengten oder vertauschten Aorten. Ich schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, stand die Sekretärin des Dekans in der Tür. Im Verlauf der letzten Jahre hatte ich Mrs Greaves näher kennengelernt. Sie war verwitwet. Ihr Ehemann war schon vor vielen Jahren gestorben, als ihr einziges Kind, ein rothaariger Junge mit Namen Alexander, noch sehr klein war. Jetzt befand sich Alexander in Flandern. Er war im April am Sieg bei Vimy beteiligt gewesen. Danach hatte er bei Messines gekämpft. Er lebte noch. Außer Alexander hatte Mrs Greaves nur eine Schwester, die Nonne geworden war. Das heißt, sie war allein, genau wie ich. Und genau wie ich kam sie in diesem heißen Sommer jeden Tag zur Arbeit. Soviel ich wusste, war sie bis jetzt nicht einen einzigen Tag krank gewesen. Jedes Mal, wenn sie Post von ihrem Jungen erhielt, kam sie herauf ins Museum und erzählte mir davon. Alexander schrieb nicht halb so eloquent wie Dugald Rivers, aber ich freute mich trotzdem immer über die Briefe und ermunterte seine Mutter, mir die vier oder fünf Zeilen bei einer Tasse Tee vorzulesen.
Heute trug Mrs Greaves ein blaues, kittelartiges Kleid. Ihr Gesicht war verquollen. »Die Post ist da«, verkündete sie und hielt einen Brief hoch.
Ich sah die ausländischen Briefmarken und Dugalds verschlungene Schrift. »Haben Sie auch einen Brief bekommen?«, fragte ich, während ich meinen entgegennahm.
Mrs Greaves schüttelte den Kopf.
Bisher hatte ich ihr Dugalds Briefe nie laut vorgelesen, aber Mrs Greaves stand so verloren in der Tür, dass es mir nun doch angebracht schien. Ich studierte den Datumsstempel – 3. Juli. Der Brief war über einen Monat unterwegs gewesen.
»Schrecklich, diese Warterei«, seufzte Mrs Greaves, als ich ihr den Umschlag zeigte. »Selbst wenn man einen Brief bekommt, kann man sich nicht darauf verlassen, dass sie noch am Leben sind.«
Ich nickte. Besonders gern dachte ich darüber nicht nach.
»Der Sohn meiner Nachbarin war bei der Ypern-Schlacht dabei, bei der zweiten«, fuhr Mrs Greaves fort. »Die Armee hat ein Telegramm geschickt, um ihr mitzuteilen, dass er gefallen ist. Zwei Wochen später hat sie einen Brief von ihm erhalten, in dem hatte er ihr geschrieben, dass es ihm gut gehe.« Sie schwieg für einen Moment. »Das reicht, um einen verrückt zu machen.«
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. Vor dem Krieg hätte ich diese Frau bestimmt nicht zum Tee eingeladen und sie schon gar nicht berührt, aber jetzt war sie eine Freundin. »Dann wollen wir doch mal sehen, was der gute alte Dr. Rivers zu erzählen hat«, sagte ich, um meinen Gast abzulenken. Ich entfaltete das Papier. Der Brief war lang, und die Buchstaben wirkten spitzer als Dugalds sonst eher fließende Schreibweise. Im Moment, schrieb er, sei er in einem Krankenhaus in London und schlafe auf einer echten Matratze zwischen echten Laken, bade in heißem, sauberem Wasser und esse etwas anderes als immer nur
Weitere Kostenlose Bücher