Das Geheimnis der Herzen
ganze Tross in Bewegung. Zügig ging Howlett den Korridor hinunter. Als ich aufblickte, beachtete mich kein Mensch mehr. Ich strich mein Kleid glatt, nahm die Tasche und folgte den anderen. Es stellte sich ziemlich schnell heraus, dass die Behandlung, die Howlett mir gerade eben hatte zukommen lassen, keineswegs die Ausnahme war.
Howlett war der Inbegriff eines weltgewandten Charmeurs. Auch bei jedem Patienten blieb er stehen und schenkte ihm einen Moment lang seine ungeteilte Aufmerksamkeit, sodass der Betreffende völlig hingerissen war. Ich sah bei allen Leuten den gleichen verzückten Gesichtsausdruck.
Nach zwei Stunden war die Visite abgeschlossen. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch so geschickt und so klug sein konnte. Howlett musste ja einerseits die Patienten zufriedenstellen und gleichzeitig auch die Studenten und die Mitarbeiter sowie die ihn besuchenden Ärzte, die hinter ihm her gingen. Er schloss die Kranken nicht aus und sprach nie über jemanden in der dritten Person, jedenfalls nicht, solange er sich in Hörweite befand. Seine Kommentare waren abwechslungsreich und interessant und stets mit Scherzen und Anekdoten gespickt.
Der Grundton des Vormittags war ungezwungen, und man musste genau zuhören, um die zahlreichen Informationen, die Howlett vermittelte, richtig mitzubekommen. Auch während er scherzte und plauderte, beobachtete er ganz genau. Wenn er einem Kranken die Hand auf den Fuß legte, war das mehr als eine freundliche Geste. Von dem Fuß gewann Howlett Erkenntnisse über den Pulsschlag und über Durchblutungsstörungen. Wenn sein Blick dann zum Gesicht dieses Mannes wanderte, überprüfte er es auf Blässe, auf die gelbe Färbung durch Gallensekret, auf die bläuliche Haut der Zyanose. Was er wahrnahm, kam schneller über seine Lippen, als die Assistenten oder Angestellten es mitschreiben konnten. Der junge Mann aus der Straßenbahn machte sich Notizen und konnte kaum die Patienten anschauen, weil er so damit beschäftigt war, nur ja kein Wort zu verpassen.
Schließlich war der Rundgang zu Ende, und die Versammlung löste sich allmählich auf. Die Studenten mussten in ihre Vorlesungen und die Mitarbeiter zu ihren Aufgaben im Krankenhaus. Ein paar Leute blieben noch, so wie ich, aber Howlett fand eindeutig, dass er uns nun genug Zeit gewidmet hatte. Er zog den Hut und entfernte sich.
Mir wurde plötzlich schwer ums Herz. War alles nur eine Pose gewesen? Wohlwollen, so gleichmäßig verteilt, dass meine Anwesenheit letztlich gar nicht richtig registriert worden war? Hatte er keine Lust, mit mir zu sprechen und etwas über Dr. Clarke oder die McGill zu erfahren – oder warum ich die weite Reise nach Baltimore auf mich genommen hatte? Ich drückte die Tasche fest an meine Brust.
Ich stand in der Tür zwischen der Station und dem Flur, von dem die Türen zu den Büros der Professoren abgingen, als Howlett an mir vorbeilief. Er war kaum eine Armlänge von mir entfernt, doch er hob nicht den Blick, sondern schaute auf den Boden. Ich stützte mich mit der rechten Hand am Türrahmen ab, während ich in der linken die schwere Tasche trug. Ich wollte unbedingt, dass Howlett mich bemerkte. Ich wollte seinen Blick noch einmal auf mich lenken.
Der Mann aus der Straßenbahn drängte sich an mir vorbei, drehte sich um und gestikulierte heftig. Dabei schrie er irgendetwas, das mit der Tür zu tun hatte. Ich starrte ihm verständnislos in die Augen. Seine Pupillen erweiterten sich blitzschnell, sie füllten die ganze Iris aus, und seine Stimme war verblüffend hoch, als wäre sie noch nicht gebrochen, wodurch er wie ein kleiner Junge klang. Aber vielleicht stimmte auch irgendetwas nicht mit ihm. Hatte er womöglich einen Anfall? Eigentlich glaubte ich das nicht, weil seine Haut übernatürlich weiß war, was ihm eine zarte, ruhige Schönheit verlieh. Um diesen Teint beneideten ihn bestimmt alle Frauen. Einen merkwürdig intimen Moment lang – bevor die Tür zufiel und mir den Ringfinger abquetschte – stellte ich mir vor, ich würde die Hand nach ihm ausstrecken und sein Gesicht berühren.
Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass der Mann verschwunden war und ich in ein anderes Gesicht starrte. In ein dunkles Gesicht. Braun wie Kaffee mit ganz wenig Milch und mit einem Schnurrbart, der über die Oberlippe hing. Ich bewegte mich nicht und versuchte, die Situation irgendwie zu begreifen. Ein Geruch lag in der Luft, der mir bekannt vorkam, den ich aber gleichzeitig nicht richtig zuordnen
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