Das Geheimnis der Herzen
hier« – er zeigte auf meinen Finger – »ist ein verkappter Segen. Sie können mir dafür danken, dass ich ihn in die Tür geklemmt habe, und sollten mich deswegen nicht nur verfluchen. Der Chief hat seit Wochen kein Abendessen mehr gegeben, und wir sind alle etwas ausgehungert.«
Die Abendessen bei den Howletts waren offenbar ein regelmäßiges Ereignis. Wie sich herausstellte, hatte der »Chief« die Angewohnheit, alle Mitarbeiter samstagabends zum Essen einzuladen. »Er ist für uns wie ein Vater«, erklärte Rivers, nun wieder kurzatmig, und seine Stimme kippte.
Es war Zeit, das Thema zu wechseln und den armen Rivers ein wenig abzulenken, ihm selbst zuliebe. Ich erkundigte mich nach Rivers’ Forschungsarbeit an der Johns Hopkins, aber so sehr ich auch versuchte, das Gespräch in andere Richtungen zu lenken, es kehrte immer wieder zu dem großen Mann zurück, zu Howlett.
»Heute Abend werden Sie sehen, wo er wohnt«, sagte Rivers atemlos. »Für uns ist die Einladung so wichtig! Wir sind ja monatelang in unsere Wohnheime eingesperrt. Er ist der Einzige unter den Fakultätsmitgliedern, der so etwas macht. Die anderen vergraben sich am Wochenende zu Hause, aber bei Dr. Howlett ist es anders. Er gibt uns etwas …« Der Rest des Satzes ging unter, weil Rivers einen Hustenanfall bekam.
12
Mai 1899
V or der West Franklin Street Nummer eins befand sich eine gr oße Rasenfläche. Eine mit Kopfsteinpflaster ausgelegte, gewundene Zufahrt führte zum Haus. Howlett wohnte nicht weit von meinem Hotel, also war ich zu Fuß gegangen, in Schuhen, die noch nass waren, weil ich versucht hatte, sie sauber zu schrubben. Ich hatte mich umgezogen, trug aber tapfer die blutbefleckte Tasche mit mir herum.
Die große Tour mit Dugald Rivers hatte länger gedauert als erwartet. Er hatte mich in sein Labor geführt und mir das Projekt gezeigt, an dem er gerade arbeitete, woraufhin ich ihm das Herz vorführte.
»Phänomenal!«, rief er, nachdem er es mindestens eine Minute lang sprachlos angestarrt hatte. »Eine Verirrung der Natur.« Er habe bis jetzt schon an die hundert Autopsien gemacht, aber noch nie etwas derart Ungewöhnliches gesehen, sagte er. »Warum schleppen Sie es mit sich herum, wenn ich fragen darf?«
Diese Frage kam so impulsiv aus seinem Mund, dass ich lachen musste. Ich setzte mich auf einen seiner Labor hocker. »Ich dachte, ich könnte es Dr. Howlett zeigen.« Rivers nickte, als wäre dieser Gedanke der logischste auf der Welt.
Bevor Howlett in die Vereinigten Staaten gegangen sei, habe er an der McGill gelehrt, erklärte ich, er stamme aus Kanada. An der McGill hatte er immer Präparate aus dem pathologischen Museum in seinen Vorlesungen als Anschauungsmaterial verwendet. Ich hoffte also inständig, dass er den Ursprung dieses anomalen Herzens kannte. Möglicherweise hatte er es selbst bei einer Autopsie entdeckt? Ich hatte es ohne korrektes Etikett vorgefunden, ohne entsprechenden Bericht, und wollte unbedingt erfahren, was dahintersteckte.
Rivers war mindestens so fasziniert wie ich und drängte mich fast, das Herz am Abend zu der Einladung mitzunehmen. »Sie müssen es ihm unbedingt zeigen, Dr. White. Auf jeden Fall! So etwas liebt er. Eine junge Dame, die mit einem Herzen in der Tasche von Kanada hierherreist. Das ist groß, Dr. White. Wirklich groß.«
Rivers’ Gesellschaft war zwar sehr anregend gewesen, aber jetzt wünschte ich mir, wir hätten uns nicht so viel Zeit genommen. Ich war spät dran, als ich wieder in mein Hotel zurückkam, und hatte es kaum geschafft, mich umzuziehen, meine Schuhe zu putzen und die blutverschmierte Tasche in der kleinen Waschschüssel im Hotel sauber zu schrubben. Ich musste mich furchtbar beeilen, und deshalb war ich jetzt recht abgehetzt und schwitzte.
Ich blickte an der Fassade des Hauses hoch. Mir blieben genau fünf Minuten, um mich zu erholen und um mich ein bisschen umzublicken. Die Straße lag still da. Die Sonne stand immer noch ziemlich hoch, aber es hatte sich bereits ein Hauch der abendlichen Feuchtigkeit in die Luft geschlichen. Die Kinder hier im Viertel waren bestimmt alle schon zu Hause, wurden gebadet oder aßen mit ihren Kindermädchen zu Abend. Dieser Teil von Baltimore wirkte äußerst gut betucht. Männer in respektablen Positionen wohnten hier, mit ihren respektablen Ehefrauen und Kindern. Sie stellten Leute ein, die sich um die Rasenflächen und die Hecken kümmerten, und ließen in regelmäßigen Abständen ihre Veranda streichen.
Howletts
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