Das Geheimnis der Herzen
brauchen. Sie haben doch sicher schon von ihm gehört?« Er stellte das rätselhafte Präparat wieder auf den Tisch. »Er hat einen exzellenten Ruf erworben, seit er von Montreal fortgegangen ist.«
Wieder nickte ich zaghaft, was Dr. Clarke auslegen konnte, wie er wollte.
»Sie sollten ein Treffen mit ihm vereinbaren, Dr. White. Aus verschiedenen Gründen – nicht nur wegen dieses Herzens.«
11
Mai 1899
D as Erste, was mir an Baltimore auffiel, war die Farbe. Grüne Blätter, die sich an den Zweigen von Ulmen und Eichen entfalteten, welche die ruhigen Straßen säumten, grüne Knospen an allen Hecken, grünes Gras auf den großen, gepflegten Rasenflächen. Als ich vor zwei Tagen in der Windsor Station in den Zug gestiegen war, hatte sich Montreal noch ganz in Grau gehüllt. In meiner Heimatstadt hatte der Frühling gerade erst begonnen, aber auf der Fahrt nach Süden war zunehmend Farbe in die Landschaft gekrochen, und hier in Baltimore kam es mir vor, als hätte sich eine Hand vom Himmel nach unten gereckt und das Land mit üppigen Frühjahrsfarben koloriert.
Ich war hier wegen Dr. Clarke. Er war es, der diese Reise angeregt und die Finanzierung geregelt hatte, auch gegen den Widerstand von Dr. Mastro und anderen Fakultätsmitgliedern. Mein Ziel war das Army Medical Museum in Washington, in dem nach Aussage von Clarke die größte Sammlung pathologischer Präparate in Nordamerika untergebracht war. Es würde, so versprach er, viel dazu beitragen, mich für meine Arbeit zu inspirieren. Auf dem Weg dorthin solle ich in Baltimore Station machen, schlug er vor, um dort das medizinische Institut und das Krankenhaus von Johns Hopkins zu besuchen. Dr. Mastro hatte einen ziemlichen Aufstand veranstaltet, als er von den Plänen erfuhr. Er wollte nicht einsehen, warum Universitätsgelder – die selbst in guten Zeiten nicht ausreichten – für eine Person ausgegeben werden sollten, die nicht einmal zum Lehrkörper gehörte.
Clarke hatte die Unternehmung trotzdem durchgesetzt, und nun war ich hier in Baltimore, saß in der ratternden Straßenbahn und war unterwegs zur renommiertesten medizinischen Fakultät in den Vereinigten Staaten. Auf dem Schoß hielt ich eine Tasche, die ausgestopft war mit Tüchern und alten Zeitungen. In dieser Verpackung versteckte sich das Glas mit dem rätselhaften Herzen, das nur drei Kammern besaß und mich nicht mehr losließ, seit ich es zum ersten Mal gesehen hatte. Ich hoffte, dass ich kurz davor war, sein Geheimnis zu lüften. Außer dem Glas befand sich in meiner Tasche noch ein Empfehlungsschreiben an den Chefarzt des Krankenhauses, an Dr. William Howlett.
Ich freute mich darauf, ihn wiederzusehen, und war schon sehr aufgeregt. Bestimmt erinnerte er sich noch an mich – schließlich war ich ihm im Dekanszimmer an der McGill sozusagen vor die Füße gefallen, um dann unter Trä nen meine wahre Identität zu enthüllen. Ich wollte ihm zei gen, dass ich es zu etwas gebracht hatte.
Das Herz ruhte schwer auf meinen Knien. Es war im buchstäblichen Sinne eine Last. Ich hatte es von Montreal bis hierher geschleppt und es die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Das Glas war zwar dick, aber zerbrechlich war es trotzdem. Ich hoffte, dass ich es für die Dauer meines Aufenthalts in Howletts Büro abstellen konnte.
Unter mir dehnte sich der Hafen. Dazu ein Labyrinth aus Straßen. Baltimore war eine Industriestadt. Es gab wohlhabende Wohnbezirke, zu denen auch das Viertel gehörte, in dem sich mein Hotel befand, mit riesigen alten Villen aus Backstein, aber in den meisten Stadtteilen drängten sich dicht an dicht die Reihenhäuser und Wohnblocks. Offenbar gab es hier eine breite Arbeiterschicht, die hauptsächlich aus deutschen Immigranten bestand, so hatte ich gehört. Die persönlichen Bediensteten hingegen waren durchweg Farbige. Als ich am Morgen auf die Straßenbahn gewartet hatte, waren nicht weniger als fünf schwarze Frauen an mir vorbeigegangen, und jede schob einen Kinderwagen mit einem weißen Baby.
Das Johns Hopkins Hospital liegt mitten in Baltimore auf einem Hügel und blickt hinunter auf die Chesapeake Bay. Es wurde in den 1870ern gebaut, ehe Pasteur die Erkenntnis verbreitete, dass Ansteckung über die Luft erfolgt. Damals hatte man den Hügel, der die frische Brise vom Meer abbekam, bestimmt als sehr gesundheitsfördernd betrachtet. Über Nacht hatten sich jedoch die Theorien verändert, und der Ort war ein Anachronismus geworden. Ich hatte irgendwo gelesen, dass nicht
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