Das Geheimnis der Herzen
hier ab? Alle redeten aufgeregt durcheinander. Dann trat plötzlich Stille ein, und jeder schaute in die Richtung, wo sich gerade eine Bürotür geöffnet hatte. Dr. Howlett kam heraus. Ich sah, wie er verschiedenen Personen lächelnd die Hand schüttelte.
In den neun Jahren hatte er sich kaum verändert. Er war immer noch makellos gekleidet. Diesmal trug er einen legeren Anzug und dazu einen Zylinder, den er nicht abnahm, obwohl auch Frauen anwesend waren. In der linken Hand hielt er einen Gehstock, und im Knopfloch steckte ein kleiner lilafarbener Fliederzweig, an dem er kurz schnupperte, während er sprach. Sein Gesicht war schmaler als früher, aber seine Augen waren noch genauso lebhaft.
Die Leute, die hier versammelt waren, hatten ihm vermutlich alle geschrieben, genau wie ich, und um eine private Unterredung gebeten. Hatte er meinen Brief vielleicht überhaupt nicht gelesen? Womöglich wusste er gar nicht, dass ich hier war! Ich beobachtete, wie er sich freundlich und mit kurzen Bemerkungen einen Weg durch die Menge bahnte. Ich entdeckte das junge Mädchen aus der Straßenbahn, das inzwischen seine Bücher gegen einen Notizblock ausgetauscht hatte. Sie lächelte schüchtern, als Howlett ihr etwas ins Ohr flüsterte. Die beiden hätten gut ein Liebespaar sein können, so intim war diese Geste. Der Mann mit der militärischen Haltung war ebenfalls anwesend. Er hatte jetzt ein Stethos kop umgehängt und verfolgte Howletts Bewegungen mit einem Blick, den ich nur als sehnsüchtig beschreiben konnte. Diese Leute waren alle nur hier, um Howlett zu sehen. Das erklärte, weshalb der Aufpasser gleich gewusst hatte, wohin er mich schicken musste, auch ohne dass ich ihn fragte. Als Dr. Howletts Sekretärin das Treffen vereinbart hatte, war ich überzeugt gewesen, es sei ein persönliches Privileg. Die ganze Nacht hatte ich mich in meinem Hotelbett hin und her geworfen und mir vorgestellt, wie ich Dr. Howletts Büro betreten würde. Ich hatte mir verschiedene Ansprachen ausgedacht. Doch offensichtlich hätte ich mir diese schlaflose Nacht sparen können, dachte ich jetzt.
Würde ich überhaupt die Möglichkeit haben, mit Howlett über das Präparat zu reden, das ich aus Montreal hierhergeschleppt hatte? Das erschien mir nun alles andere als sicher. Dr. Howlett begann seine Morgenrunde. Allem Anschein nach war es Sitte, dass er dazu viele Studenten und Kollegen einlud. Ich lehnte mich an die Wand und stellte die Tasche mit dem Herzen auf den Boden, neben meine Schuhe, die ich heute Morgen um halb sechs sorgfältig geputzt hatte.
»Guter Gott – sind Sie das?«
Ich blickte hoch und blinzelte.
William Howlett stand vor mir. »Ja, Sie sind es tatsächlich! Ich wusste doch, dass ich mich nicht irre. Was für eine Überraschung. Agnes White.«
Seine Haut war immer noch dunkel, als hätte selbst an den trübsten Wintertagen eine private Sonne ihn beschienen. Er sah besser aus als in meiner Erinnerung. Der Schnurrbart war nach oben gezwirbelt und an den Spitzen gewichst. Ich starrte ihn verdutzt an, aber dann fasste ich mich wieder und murmelte irgendetwas von Dr. Clarke, McGill und Montreal.
Howlett reichte mir lächelnd die Hand und schaute mich an. Ich wandte als Erste den Blick ab und sah mich nervös um. Alle Augen ruhten auf mir.
»Samuel Clarke?«, sagte Howlett dann. »Das ist wirklich ein Name, der das Feuer der Erinnerung schürt.« Er nahm das Empfehlungsschreiben entgegen und öffnete es gleich, als handelte es sich um ein Geschenk. »Na, so was!«, rief er, nachdem er es gelesen hatte. » Doktor White. Ich heiße Sie willkommen.« Wieder nahm er meine Hand, und diesmal führte er sie an seine Lippen.
Mit unverhohlenem Neid verfolgten die Leute um uns herum die Begegnung und versuchten zu erraten, wer ich war und warum ich die besondere Aufmerksamkeit des großen Mannes verdiente. Ich spürte Howletts Lippen auf meiner Haut. Was, um Himmels willen, hatte Dr. Clarke geschrieben? Ich hatte durchaus damit gerechnet, dass sich Howlett an mich erinnerte, aber dass er mich so überschwänglich begrüßen würde, hätte ich selbst in meinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt.
Er ließ meine Hand los und wandte sich wieder den übrigen Anwesenden zu, wodurch er mir die Chance gab, mich zu sammeln. Mit seinem Gehstock deutete er zur Station, knallte die Hacken zusammen, vielleicht als eine Art Salut an mich oder vielleicht auch als allgemeines Zeichen, dass nun die Visite begann, und schon setzte sich der
Weitere Kostenlose Bücher