Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
die Schultern. Was konnten ihm diese verdammten Inselratten und dieses elende Turmloch schon anhaben? Er war im Recht, und noch gab es Hoffnung auf Freiheit für ihn. Er musste sie finden, und dann würde er die Insel verlassen.
Doch nicht, um dem Richter ins Gesicht zu sehen. Grimmig lachte Wiltert auf. Weiß Gott, dazu würde es nicht kommen! War er nicht der Sohn seines Vaters? Es gab Möglichkeiten für ihn, von denen der Vogt nichts wusste. Der Vogt ahnte ja nicht einmal, auf welchem Pulverfass er saß.
Damals, in seiner Kinderzeit, war er oft mit dem Vater hier gewesen. Wiltert schloss die Augen, und unversehens fühlte er sich zurückversetzt in jene Zeit. Sah den Triumph auf dem Gesicht des Predigers, spürte aber mehr noch, wie die Wärme ihn umfing, die von ihr ausging. Immer hatte sie rechts neben der Tür gestanden und auf ihn gewartet. Damals hatte keiner der Insulaner je den Mut besessen, sie zu berühren, geschweige denn ihren Standort zu verändern. Sie blieb auf der Insel als Mahnung an alle, dass der falsche Glaube und der Verstoß gegen die Gebote das Höllenfeuer nach sich zogen. Keiner der Insulaner wusste, dass der Prediger seinen ganz eigenen Grund hatte, sie nicht dem Meer zu übergeben.
Auf dem Sterbebett hatte er den Schlüssel zur Tür des Turms seinem Sohn übergeben. Es war nicht der einzige Schlüssel. Auch der Vogt konnte sich Einlass verschaffen. Aber von dem Schlüssel des Predigers wusste niemand.
In den Jahren danach hatte es Wiltert immer wieder zu ihr getrieben. Er hatte den Schatz gepflegt, ihn durch kleine Diebereien noch gemehrt und, in dem Bewusstsein, dass sie kommen würde, auf seine Zeit gewartet.
Sein Vater hatte in seiner Gier, immer mehr zu horten, zu lange gewartet. Irgendwann war es zu spät gewesen. Er hatte seine Träume mit ins Grab genommen.
Wilterts Hände umklammerten die Stuhllehnen, bis die Knöchel weiß hervortraten. Er musste sich Gewissheit verschaffen, ob sie noch hier war.
Vorsichtig hievte der Gefangene sich aus dem Stuhl. Die Wunde brannte wie Feuer. Übelkeit stieg in ihm auf, doch Wiltert biss die Zähne zusammen. Er nahm einen alten Holzstab zur Hilfe und tastete sich vorwärts. Immer wieder musste er keuchend innehalten. Die Schmerzen brachten ihn einer Ohnmacht nahe. Dieser verdammte Köter! Er würde dran glauben müssen, genauso wie Jeels van Voss, und wenn es seine letzte Tat auf der Insel wäre. Doch jetzt war keine Zeit für Rachegedanken. Er musste sie finden!
Wiltert durchsuchte Stück für Stück den Raum. Er kroch auf Händen und Füßen umher, und Flüche begleiteten sein Tun. Dann, endlich, leuchteten seine Augen auf.
Verhängt mit einem stockfleckigen Laken stand sie verborgen hinter einem Haufen alter Netze und einem Berg aus Treibholz. Das Licht der Lampe gab dem aufgetürmten Strandgut ein seltsam bedrohliches Aussehen. Es erinnerte Wiltert an einen alten Mann, der das Heiligtum bewachte und ihm mit einer Waffe drohte. Sein Herz klopfte wie wild, doch dann trat ein belustigtes Grinsen auf sein Gesicht. Wiltert schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie konnte man sich nur so narren lassen! Bei dem Kopf des Schatzhüters handelte es sich um einen alten Hummerkorb, der auf dem Holzstoß thronte. Algen und Muscheln ließen ihn wie ein Gesicht mit Mund, Nase und Augen aussehen. Die Waffe war nichts weiter als ein langer Holzstab, der aus dem Stapel ragte.
Als ob an den Kindermärchen etwas dran wäre! Früher hatte er sich noch beeindrucken lassen, wenn die Alten ihre
Geschichten von den Götterwächtern Odins, geschaffen aus Treibholz, zum Besten gaben. Alles Hirngespinst! Es gab nur eine Göttin, die für ihn zählte. Und sie hatte er nun gefunden!
Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf Wilterts Gesicht, als er das Laken zur Seite warf und seine Hände über den behauenen Findling gleiten ließ. Der Stein war kalt, doch von dem Gesicht der Statue ging eine Liebe aus, die bis in sein Innerstes drang und ihn wärmte. Erleichtert lehnte Wiltert für einen Moment seinen Kopf an den Stein. Dann trat er einen Schritt zurück und ließ seine Augen über die Gestalt gleiten. Sie war lebensgroß. Eine stehende Frauenfigur, eingehüllt in einen weiten, mit großem Kragen versehenen Mantel. Die Gestalt trug eine Haube, nicht unähnlich denen der Insulanerinnen. An ihrer rechten Seite war ein Horn des Überflusses dargestellt, aus dem Obst quoll, und an der linken Seite ragte ein Ruder aus dem Mantel. Wilterts Hände fuhren
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