Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
flog die Tür auf, und Wemke trat über die Schwelle. Ihr Haar hatte sich gelöst und hing ihr wirr über die Schultern. Er sah, dass sie geweint hatte. Sie sah ihn an, und er fühlte, wie Wärme in ihm aufstieg. Eine tiefe Zärtlichkeit lag in ihrem Blick. Jeels hielt den Atem an. Er wollte sich erklären, sagen, dass er ins Dorf zurück musste. Doch ein Windstoß ließ die Tür zuschlagen, und der Knall riss ihm die Worte von den Lippen.
Wemke tat einen Schritt auf ihn zu. Er erkannte in ihren Augen die Angst, die sie um ihn ausgestanden hatte. Als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, huschte ihre Hand zu seinem Gesicht und wischte ihm einen Rußfleck von der Stirn.
Und plötzlich waren beide gefangen in diesem einzigartigen Augenblick. Die Stille um sie herum schien alle Empfindungen noch hervorzuheben. Die Dunkelheit, nur durchbrochen von dem flackernden Licht der Lampe, bot Raum für ein Feuerwerk aus Gefühlen. Sanft streckte Jeels seine Hand aus und strich ihr über die Wange und das seidig weiche Haar. Sie
drehte ganz leicht den Kopf und drückte ihre Lippen auf die Innenfläche seiner Rechten.
Das Feuer, das Brausen des Windes, die Geräusche der Brandung - all das schien sehr weit fort. Sie waren gemeinsam an einem anderen Ort, zu dem niemand außer ihnen Zugang hatte. Für diesen Moment, für diese kurze Ewigkeit. Beide wussten um die Gefühle des anderen, obwohl sie nie darüber gesprochen hatten. Ihre Augen sagten mehr, als die Lippen jemals preisgeben konnten.
Und als dann nicht nur ihre Augen und Hände, sondern auch ihre Lippen sich fanden, da schienen ihre Gefühle über ihnen zusammenzuschlagen wie Wellen während eines Sturms. Wärme floss durch ihre Körper, vertrieb alle Angst, alle Traurigkeit, und die tödliche Kälte, die beide seit dem Abschied am Strand erfüllt hatte, wich.
Die Worte kamen aus Wemkes Mund, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden: »Ich liebe dich!«
Jeels holte tief Luft und atmete dabei den süßen Duft ihres Haares ein. »Ich liebe dich auch. Wemke, ich will nie wieder ohne dich sein. Bitte komm mit mir nach Bremen. Lass uns gemeinsam ein neues Leben anfangen.«
Wemke senkte den Blick und schwieg. Jeels krampfte sich das Herz zusammen. Er glaubte, ihre Antwort zu kennen, und eine schreckliche Leere breitete sich in ihm aus.
»Ich werde mit dir kommen.« Ihre Worte waren nur ein Flüstern, kaum zu verstehen, doch augenblicklich füllten sie die Leere in Jeels’ Herz aus und ließen dort für nichts anderes mehr Platz.
30
S trandgut übte auf die meisten Bewohner Wangerooges einen großen Reiz aus. Woher kamen die Schätze, die das Meer auf den Strand warf? Welches Schicksal hatte gerade diesen oder jenen Gegenstand auf ihre Insel gebracht? Geschichten wurden um die einzelnen Fundstücke gesponnen und boten Kurzweil an den langen Winterabenden. Was zu schade für das Meer war, aber auch keine augenblickliche Verwendung an Land fand, wurde im Erdgeschoss des Turms gelagert. Dort fand man Wrackgut, Trümmerteile oder sonstige Dinge, die vom Meeresgrund heraufgebracht worden waren. Dazwischen war Platz für unzählige Steine, Muscheln und glattgeschliffenes Glas.
Es war daher nicht verwunderlich, dass der Badearzt bei seinem Eintreten Wiltert inmitten all der angehäuften Schätze fast übersehen hätte. Er hockte auf einem der Stühle, das verletzte Bein auf einem Stapel Holz hoch gelagert. Auf dem Tisch standen eine Lampe, ein Krug mit Wasser, eine Waschschüssel und ein Teller mit einem Kanten Brot. Der Raum wurde nur erhellt von der Petroleumlampe, in deren Schein die verschiedenen Gegenstände gespenstische Schatten warfen. Die beklemmende Atmosphäre wurde durch den heftiger werdenden Wind, dessen Heulen hier im Turm unheimlich klang, noch verstärkt.
Wiltert blickte dem Eintretenden herausfordernd und mit einem gewissen Trotz entgegen. Sein Gesicht war schneeweiß, aber in den Augen lag ein merkwürdig kalter Glanz.
»Sieh an! Sogar unser hoch geschätzter Badearzt ist aus seinem Bett gekrochen, um mir seine Aufwartung zu machen.« Er lüftete einen nicht vorhandenen Hut. »Wie rührend. Und seinen Hofstaat hat er auch mitgebracht.« Höhnisch funkelte er Hubert und den Vogt, die hinter Dr. Hoffmann den Raum betraten, an. »Bin ich urplötzlich so gefährlich, dass ihr Holzköpfe ihm Geleitschutz geben müsst? Glaubt ihr vielleicht, ich würde ihm unversehens an die Gurgel springen, oder was?«
»Hör auf, dich
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