Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
liebevoll über die Inschrift: Neeltje Jans . Wie ihn dieses heidnische Wesen faszinierte! Sie war die Göttin der Nordsee und Hüterin der Schiffer.
Für seinen Vater hatte sie nicht mehr dargestellt als einen guten Hort für das Diebesgut eines christlichen Priesters. Zumindest hatte er das immer behauptet. Obwohl Wiltert ein kleiner Junge gewesen war, konnte er sich noch genau an den Tag erinnern, als der Pastor die Statue der Meeresgöttin nach dem Tod eines uralten Insulaners in dessen Kate entdeckt hatte. Wochenlang hatten die Menschen seinen Predigten über den Götterglauben und das Höllenfeuer lauschen müssen und waren zur Umkehr beschworen worden. Fasziniert hatte er als Kind die Geschehnisse verfolgt. Eine seltsame Anziehungskraft war immer schon von der Göttin ausgegangen. Er hatte sich gefragt, welche Macht sie besaß, dass selbst ein Geistlicher sie zu fürchten schien? War es die Wärme, die sie ausstrahlte, die Güte auf ihrem Gesicht, die allen galt? Diese Göttin war das
Gegenstück zu seinem Vater, seine Nebenbuhlerin. Fürchtete er deshalb ihre Macht und verbannte sie in den Turm?
Angeblich hatten die anderen Insulaner von dem ganz eigenen Altar des verstorbenen Fischers, dessen Herzstück die Statue gewesen war, nichts gewusst. Mit unnachgiebiger Härte hatte sein Vater nach der Herkunft der Gottheit geforscht. Nur zögernd war ihm Auskunft erteilt worden.
Schon vor mehr als hundert Jahren habe man bei eintretender Ebbe nach einer stürmischen Brandung Trümmer von Säulen und Altären heidnischer Götter gefunden. Woher sie gekommen waren, wusste niemand zu sagen. Der damalige Prediger ließ das heidnische Strandgut weit hinaus aufs Meer bringen. Einem Vorfahren des verstorbenen Insulaners jedoch war es mit der Hilfe seiner beiden Söhne gelungen, heimlich eine Statue in seine Fischerkate zu schleppen.
Warum hatte sein Vater die Figur nicht zerstört? Diese Frage war ihm als Kind immer wieder durch den Sinn gegangen. Eines Nachts war er einer einsamen brennenden Fackel bis zum Turm gefolgt. Zu seiner großen Verwunderung hatte er den Prediger dabei beobachten können, wie dieser die Tür aufschloss und sich für einige Zeit im Turm aufhielt. Damals hatte er sich in seiner Fantasie ausgemalt, wie der Gottesmann mit der weiblichen Göttin rang, und er hatte sich gefragt, ob der Prediger immer Sieger blieb. Dann wieder war es ihm gewesen, als ob sein Vater selbst die Göttin verehrte und Sehnsucht nach der Sanftmut und Güte in ihrem Antlitz hatte. Da war dieser selige Gesichtsausdruck, wenn er den Turm wieder verließ.
Doch beide Vermutungen hatten sich als falsch erwiesen. Denn eines Tages war ihm unverhofft das Geheimnis der Figur offenbart worden. In jener Nacht war er wieder einmal heimlich der Fackel gefolgt. Der Prediger hatte die Tür aufgeschlossen, war dann aber wieder in der Dunkelheit verschwunden. Wiltert nutzte die Gelegenheit, um sich in den
Raum zu schleichen und ein Versteck zwischen dem Strandgut zu suchen. Nur kurze Zeit später kehrte der Geistliche zurück, doch er war nicht alleine gewesen. Wiltert schoss noch heute das Blut ins Gesicht, wenn er daran dachte, was sein Vater mit der jungen Magd, die ihm den Haushalt führte, getrieben hatte. Er hatte sich durch einen Laut verraten, und das Herz war ihm aus Angst vor der Wut des Pastors in die Hose gerutscht. Doch der erwartete Zornesausbruch kam nicht. Es schien, als ob das Wissen um einen Beobachter die Wollust des Priesters noch steigerte. Auch später, als die Frau weinend gegangen war, hatte der Pastor ihn nicht gestraft oder sich an ihm vergriffen. Im Gegenteil. Der Geistliche wusste oder ahnte wohl damals schon, dass er sein Sohn war, und hatte ihn zu seinem Vertrauten gemacht. Noch in der gleichen Nacht war er in das Geheimnis der Statue eingeweiht worden.
Die Steinfigur barg in ihrem Inneren einen Hohlraum, und in diesem hortete der Kirchenmann besondere Schätze.
»Die Toten fragen nicht mehr nach ihrem Schmuck und Geld«, hatte der Geistliche ihm später erzählt. »Und die Hinterbliebenen tun gut daran, nicht gerade den Prediger des Diebstahls zu beschuldigen.«
Und so hatte sein Vater nach und nach ein Vermögen angehäuft. Nicht zuletzt durch den Tod Reemke van Voss’. Auch davon hatte er ihm erzählt. Zu der Zeit hatten sie sich gemeinsam an dem irdischen Reichtum ergötzt, und der Prediger hatte den Sohn in seine Pläne eingeweiht. Er würde das Vermögen dazu nutzen, sich alsbald auf dem Festland den
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