Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Sie schon einmal Gegenstände aus diesem Material gesehen? Vielleicht sogar in der Villa Henriette? Besaß Paul etwas aus diesem Material?«
Wie in der vorangegangenen Woche auf dem Markt war er plötzlich nicht mehr der junge, verführerische Mann und nette Beschützer. Vielmehr ähnelte er jetzt einem Polizisten, so inquisitorisch wirkte er mit einem Mal.
»Welches Material meinen Sie?«, erkundigte sich Nina beunruhigt. »Das Material, aus dem diese Figur geschnitzt ist. Jade. Diese Jade ist von einer minderen Qualität. Es gibt wertvollere und sogar sehr wertvolle. Wenn Sie im Haus Gegenstände aus Porzellan oder Jade finden, zögern Sie nicht, sie mir zu zeigen, ich werde Ihnen einen Rat hinsichtlich ihres Wertes geben.«
»Ich werde es nicht versäumen«, antwortete Nina und verbarg, so gut es ging, ihre Befangenheit.
›Trotzdem merkwürdig‹, dachte sie, ›dieses Interesse, das sie alle an dem Besitz meines Vaters haben. Morton, der darauf besteht, mir zu helfen, die Papiere zu ordnen; Wenji, der wissen will, was für Kunstgegenstände sich im Haus befinden …‹
Sie hatte nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn jetzt wich Wenji zur Seite, um sie in ein Zimmer eintreten zu lassen, das in ein sanftes Halbdunkel getaucht war. Dort stand mit einem langen Pinsel in der Hand vor einer Art Staffelei eine junge Frau.
»Meine Schwester Mei«, sagte Wenji.
Das Mädchen warf einen Blick zur Seite. Sie ähnelte den chinesischen Figuren in der Vitrine. Ihre wunderbaren mandelförmigen Augen wurden durch einen langen schwarzen Strich hervorgehoben. Sie trug ein korallenrotes, mit blassgelben Chrysanthemen besticktes klassisches chinesisches Kleid. Der Kragen schloss so hoch und war so steif, dass sie gezwungen war, ihren Nacken gerade und das Kinn hoch zu halten. Ihr Haarknoten war zwei Mal so dick wie der von NIna. Eigentlich bestand er aus zwei Knoten, die mit langen Elfenbeinkämmen zusammengesteckt waren, von denen rote Korallenornamente herabhingen. All das bewirkte, dass sie sich kaum bewegen konnte. Zur Begrüßung begnügte sie sich mit einer leichten Bewegung des Kinns und setzte ihre Beschäftigung fort. Auf der Leinwand der Staffelei war die Hälfte einer Blume zu sehen, deren Rosa genauso grell war wie das der Orchideen an den seidenen Wänden. Wieder taten Nina die Augen weh.
Wenji beugte sich zu ihr und murmelte ihr augenzwinkernd zu:
»Sie malt so schlecht wegen ihrer Kleider. Sie findet sie aristokratisch. Man sagt, dass Wu Zetian, die Kaiserin von China, solche Kleider getragen habe. Aber wie soll sie auch selber erkennen können, was sie tut? Man könnte meinen, man habe sie in einen Eimer mit Klebstoff getaucht und hilflos vor die Staffelei gestellt.«
Der Vergleich war so treffend gewählt, dass Nina nicht umhin konnte, laut loszuprusten. Glücklicherweise hinderte ein plötzliches Stimmengewirr die vornehme Mei daran, etwas davon mitzubekommen. Denn auf einmal stürmte eine Gruppe Kinder jeglichen Alters, Mädchen und Jungen, in das Zimmer.
Wenji benannte so schnell einen nach dem anderen, dass Nina nicht die Zeit hatte, sich auch nur einen Namen zu merken.
»Ziyi, Chiyou, Nuwa, Gong, Lin, Quishang …«
»Guten Tag, guten Tag, guten Tag …«
Ninas Kopf drehte sich. Und alle sahen sich ähnlich, wie Miniaturmodelle von Wenji, bis hin zu der Haarsträhne, die ihnen in die Gesichter fielen.
»Sind das alles Ihre Geschwister?«, fragte Nina ungläubig.
»Ja«, amüsierte sich Wenji, »ich habe acht.«
»Acht! Aber sie sehen alle gleich aus! Wie können Sie sie auseinanderhalten?«
Der junge Mann lachte laut auf und fuhr dem jüngsten liebevoll durch die Haare.
»Sie haben recht, Nina, manchmal verwechsle ich sie.«
Er schnappte ein kleines Mädchen, das ihm in die Arme sprang.
»Das hier ist Lu, sie ist die Jüngste.«
Die anderen umringten die Staffelei und piepsten wie ein Schwarm Spatzen. Sofort begann Mei, sie anzuherrschen, und verteilte rechts und links Ohrfeigen – ohne ihren Nacken auch nur einen Millimeter zu bewegen. ›Was für eine Leistung!‹, dachte Nina.
»Mei dagegen ist unverwechselbar«, kommentierte Wenji die Szene. »Ich sage es Ihnen ehrlich: Ich wünsche Ihnen eher sechzehn Geschwister wie die anderen als eine einzige Schwester wie sie.«
»Ich bin ein Einzelkind«, erinnerte Nina ihn mit Bedauern in der Stimme.
»Ja, Sie haben natürlich recht. Es tut mir leid.«
»Mir auch«, seufzte Nina und dachte dabei an all die Jahre ihres
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