Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
die sie davon abhielt, Buddha um Hilfe zu bitten! Mit Wut im Herzen verließ Tam die Pagode und rannte den ganzen Weg bis nach Hause.
Im Hof traf sie auf ihren Vater, der eben damit beschäftigt war, das Abendessen zuzubereiten. Die Krabben, die Zitronenmelisse und den Ingwer hatte er in einen großen Wok gefüllt und rührte mit einem langen Holzlöffel darin herum.
»Heute solltest du mit dem
nuoc mâm
nicht zu sparsam sein«, schleuderte Tam ihm entgegen und fügte hinzu, wobei sie Ninas Stimme imitierte: »Sie ›liebt es, neue Gerichte zu probieren‹!«
»Was hat dir Mademoiselle Antoinette denn getan?«, fragte Hung betrübt. »Du siehst ja aus, als würdest du sie hassen.«
»Nichts«, brummte Tam und riss sich den Hut vom Kopf.
»Anstatt dazustehen und über Unsinnigkeiten nachzugrübeln, wäre es besser, du würdest dich um den Ahnenaltar kümmern. Das Neujahrsfest nähert sich, und du hast ihn noch nicht gesäubert.«
Tam betrachtete den kleinen Altar in der Ecke des Hofs. Er bestand aus den Grabtafeln der Ahnen und einem Brett, auf dem sich einige als Opfergaben dargebrachte Betelnüsse, eine Vase mit Blütenzweigen und Weihrauchstäbchen befanden. Ihr Vater hatte recht: Sie hatte ihn in der letzten Zeit vernachlässigt. Sie hatte nicht zu Buddha beten können, doch sie konnte zu den Ahnen beten.
Sie ging und holte ein Tuch, säuberte das Brett und wischte die Tafeln ab. Dann erneuerte sie die Aprikosenblüten und die Nüsse. Schließlich malte sie die glückbringenden Symbole auf rote Papierbänder, um sie an die Säulen zu beiden Seiten des Altars zu hängen. Diese Tätigkeit verscheuchte tatsächlich ihre schlechte Laune. Sie dachte an ihre Großeltern, die als arme Bauern aus den im Norden liegenden Reisfeldern gekommen waren, um in Hué Arbeit zu finden. Und sie dachte an alle ihre Vorfahren, deren Seelen in diesem bescheidenen Altar Zuflucht fanden.
Ihr Herz zog sich zusammen. Paul d’Armand war verschwunden, niemand wusste, wohin, und seine Seele irrte in der Welt der Toten umher, ohne zur Ruhe kommen zu können. Sie musste darüber mit diesem Mädchen sprechen, mit diesem angeblichen
jungen Fräulein
, und ihr erklären, wie man einen Ahnenaltar in der Villa Henriette errichtete. Paul d’Armand hätte sich darüber gefreut.
Ihre Wut hatte sich gelegt, die Gedanken waren endlich zur Ruhe gekommen und Tam nahm ein Streichholz, um die Weihrauchstäbchen anzuzünden. Dann schloss sie die Augen, um mit gefalteten Händen zur Ruhe zu kommen und sich zu sammeln.
Schatten
Meine liebe Miss Melly
,
seit meiner Ankunft ist mir so vieles passiert, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll
…
Nina beugte sich über ihr Briefpapier. Sie hatte das elegante Blatt mit einem Briefkopf in kursiven Buchstaben in der Schublade des kleinen Schreibtisches in ihrem Zimmer gefunden. Darunter hatte sie geschrieben:
Hué, den 12. Februar 1912
. Und sofort nach ihrem Anfangssatz hatte sie gebeichtet, um ihr Gewissen zu erleichtern und sich jemandem anzuvertrauen, der sie verstehen würde.
Zuerst entschuldige ich mich bei Ihnen, dass ich Ihre Sachen gestohlen habe
.
Ich werde es Ihnen erklären
…
Es war ihr wichtig, alles zu erklären: das Telegramm von Monsieur Morton, den Tod ihres Vaters, den Entschluss, die Reise fortzusetzen, die Notwendigkeit, nicht in den Kleidern eines kleinen Mädchens zu erscheinen, und noch vieles mehr. Und wie ihre Ankunft ohne Zwischenfall verlaufen war.
Es stimmte: Seit Nina in Hué war, war alles gut gelaufen. Sie hatte eine Gewissheit: Sie würde glücklich in Indochina leben können. Sie mochte die Villa Henriette, die Blumen, den Fluss der Düfte, den Markt, Hungs Küche und die mütterliche Freundlichkeit Chinhs. Sie liebte es auch, die hübschen und eleganten Kleider anzuziehen, die sie in Miss Mellys Koffer gefunden hatte. Alles lief also zum Besten. Nach ihren Berechnungen hatte sie in dem kleinen Safe genug, um einige Monate davon leben zu können.
Das lässt mir Zeit, Kunden für die Fotografie zu finden, denn ich bin fast genauso gut wie mein Vater und meine Mutter, das versichere ich Ihnen
.
Es gab dennoch einige Schatten auf dem Bild, die sie Miss Melly nicht schilderte.
Einige waren sehr, sehr dunkel. Der furchtbarste war das Gefühl der Einsamkeit, das an ihr nagte. Ihr Vater fehlte ihr. Dieses Fehlen wurde unablässig von den so zärtlichen Aufmerksamkeiten aufgefrischt, die Paul d’Armand für seine Tochter zurückgelassen hatte: das Briefpapier,
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