Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
der jungen Französin.
»Möge Buddha Sie beschützen!«, rief sie aus. »Sie haben mindestens vierzig Grad Fieber. Man könnte ein Ei auf Ihrem Kopf braten. Ich werde Ihnen helfen. Als Erstes müssen Sie jetzt ins Bett und sich einmal richtig ausschlafen.«
»Ich kann nicht«, murmelte Nina. »Da ist ein Monster. Und plötzlich wollen alle möglichen Leute wissen, was mein Vater im Haus versteckt hält.«
»Leute? Kommen Sie, Mademoiselle, das Fieber lässt Sie fantasieren.«
»Wenji … Morton … Ich will nicht allein hier schlafen.«
»Sie werden nicht allein schlafen. Das kommt in Ihrem Zustand gar nicht infrage. Ich werde bei Ihnen bleiben. Meine Eltern werden eine Matratze für mich in Ihr Zimmer legen.«
»Du bleibst bei mir? O ja, bitte!«
Tam schaute sie lange an. Einen Augenblick zuvor hatte sie diese Antoinette d’Armand mit ihrer Wichtigtuerei, ihrer unerhörten Ahnungslosigkeit, die sie unter ihren hübschen Kleidern einer Pariserin verbarg, verabscheut. Und jetzt, innerhalb einer Sekunde, mit einem »Bitte« und glänzenden Augen, ließ sie sie wie ein Mango-Sorbet in praller Sonne dahinschmelzen.
Sie schüttelte langsam den Kopf und seufzte, dann begann sie, nacheinander die kleinen Knöpfe des Oberteils aus zarter Spitze zu öffnen.
»Ich verspreche es Ihnen. Ich bleibe da.«
Ein Einbrecher in der Nacht
Nina phantasierte die ganze Nacht hindurch. Fieberträume suchten sie heim: Sie sah einen riesigen Tausendfüßler an den Vorhängen krabbeln, ein Baum aus Jade ließ seine polypenartigen Äste zwischen die Hautfalten des Insekts gleiten; sie sah sich selbst, wie sie in ein Fass mit
nuoc mâm
mitten in verdorbene Fische gefallen war. Dann tauchte plötzlich die kleine Madonna aus Gips vor ihren schmerzenden Augen auf, die ihr Vater auf ihren Nachttisch gestellt hatte. Sie verwandelte sich: Die Farbe glitzerte, das Gesicht verzerrte sich. Plötzlich tauchte auch Wenji auf, der ihr einen anklagenden Finger entgegenstreckte: »Wo ist der Affe aus Jade? Wo ist das Geld aus dem Safe?«, schrie er. Und dann war da auch Miss Melly: »Diebin!«
Ein anderes Mal vernahm sie die Stimme von Professor Morton im Flur – waren es wieder Halluzinationen oder Wirklichkeit? Tam antwortete ihm im strengen Ton:
»Nein, Sie können jetzt nicht zu ihr. Ich bitte Sie, draußen zu bleiben, Herr Professor!«
»Sie müssen einen Arzt rufen«, antwortete die weit entfernte Stimme des Professors.
Die Angst erstickte Nina mit eiserner Schlinge: ›Wenn ein Arzt käme‹, dachte sie, ›wie würde ich ihn glauben machen, dass ich einundzwanzig Jahre alt bin?‹
Nina rief Tam.
»Ruf keinen Arzt«, flehte sie sie an. »Bitte nicht, mir geht es schon viel besser, ich werde bald aufstehen. Ich will keinen Arzt.«
»Ich vermute, dass Sie keinen Arzt wollen«, antwortete ihr Tam in ruhigem Ton. »Seien Sie beruhigt, ich weiß, wie man Sie behandeln muss. Ich werde keinen Arzt rufen, weder einen französischen noch einen chinesischen. Haben Sie keine Angst.«
Erleichtert schloss Nina ihre brennenden Augenlider. Sie versank wieder in einen komatösen Schlaf, in Schweiß gebadet und zitternd vor Fieber. Für wie lang? Sie konnte es nicht sagen. Sie kam erst wieder zu Bewusstsein, als sie Tam hörte, deren Worte wie durch Watte zu ihr drangen.
»Trinken Sie das. Das ist ein Heilmittel von Doktor Zhou gegen das Fieber.«
»Das Fieber?
»Es kommt häufig vor in Indochina. Diesen Absud aus Helmkrautwurzeln und Süßholz müssen Sie trinken, es wird vorübergehen.« Sie stützte Ninas Nacken, damit sie trinken konnte.
Die ganze Zeit ihrer Krankheit über ließ Tam niemanden ins Haus. Nicht einmal ihren Vater und ihre Mutter. Sie brachte selber die Handtücher und Laken, die Chinh gewaschen, und die Brühe, die Hungh zubereitet hatte. Sie befeuchtete Ninas Stirn und Schläfen mit kaltem Wasser und verabreichte ihr Arzneien.
Den Überseekoffer aus dem Flur hatte sie in Ninas Zimmer neben den anderen gezogen. Um sich die Zeit zu vertreiben, wenn sie zu müde für ihre Hausaufgaben war, räumte sie das Zimmer auf, untersuchte die Koffer und las die Bücher der Gräfin de Ségur, die auf dem Nachttisch gestapelt waren.
»Was für eine Idee«, wunderte sie sich, »Nina ein Buch zu kaufen, das
Les Petites filles modèles
heißt!«
Selbst mit geschlossenen Augen und schutzlos, auch wenn sie in ihrem Fieberwahn »Papa« stöhnte, hatte Nina nichts von einem kleinen mustergültigen Mädchen an sich. Ihre Beine waren zu lang
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