Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
die mit
A. A
. bestickten Handtücher oder die Vichy-Pastillen, die sie so gern mochte. Alle diese kleinen Entdeckungen, die sie in den Schubladen ihres Zimmers machte, brachten sie immer wieder an den Rand der Tränen.
Ein anderer Schatten auf dem Bild war Professor Morton. Er war gleich am nächsten Morgen nach ihrer ersten Begegnung wiedergekommen, als sie sich gerade angezogen hatte. Als sie die Stimme des dicken, atemlosen Mannes vor der Tür hörte, spürte Nina, wie ihr Nacken steif wurde und ein Gefühl der Gefahr sie erfüllte. Als wenn auf seiner so breiten Nase das Wort
Waisenhaus
stünde.
Dennoch war Professor Morton wirklich auf sie reingefallen. Es war ihr gelungen, sich ihm gegenüber als ein authentisches junges aristokratisches Fräulein auszugeben. Er verhielt sich, als müsste er darauf achten, sie in allem zufriedenzustellen.
»Wünschen Sie, dass ich Ihnen helfe, eine Bestandsaufnahme des Erbes zu machen? Würde es Ihnen helfen, wenn ich mit Ihnen zusammen die Papiere Ihres Vaters ordnete?«
Nina hatte alles abgelehnt und dabei darauf geachtet, kühl und ruhig zu bleiben. Glücklicherweise passierten ihr in seiner Gegenwart keine Schnitzer, die Teng Wenji ein Lächeln ins Gesicht trieben und Tam die Augen verdrehen ließen.
Ja, und da war Tam. Sie stellte ebenfalls einen Schatten auf dem Bild dar. Waren ihre Eltern herzlich und voller Respekt ihrer jungen Herrin gegenüber, konnte man von Tam weder das eine noch das andere behaupten.
›Sie macht mich wahnsinnig‹, dachte Nina und betrachtete die gute Schülerin, wie sie mit verkniffenen Lippen mit dem Kompass einen Winkel abmaß. Dabei wusste sie sehr wohl, dass sie Tam ebenfalls wahnsinnig machte. Und je mehr sie miteinander sprachen, umso mehr brachten sie sich gegenseitig zur Weißglut. Dennoch schien es, als zögen sie sich wie die unterschiedlichen Pole zweier Magneten gegenseitig an.
Wie zum Beispiel genau in diesem Moment. Nina hatte sich entschlossen, ihren Brief an Miss Melly im Garten zu schreiben, obwohl sie wusste, dass Tam dort nach der Schule ihre Hausaufgaben machte.
Unter der Blütenpracht der Pergola war es mild. Der Duft der Frangipani, des Pagodenbaums, hing in der Luft, und Nina hatte Freude daran, ihrer englischen Freundin von ihrem neuen Leben zu erzählen. Doch Tam erstickte die sorglose Atmosphäre. Sie ließ sich nicht davon abbringen, in ihrem Heft Zahlen aneinanderzureihen. Vollkommen von ihrer Aufgabe eingenommen, hob sie nicht einmal den Blick, weder um den dicken flatternden Schmetterling zu betrachten, der auf den blauen Winden Honig sammelte, noch um ein Monsterbild auf den Rand zu kritzeln oder auch nur an einem Nagel zu knabbern. Säßen sie gemeinsam in einer Schulklasse, hätte Nina sie mit einem Papierkügelchen beworfen. Aber hier konnte sie nicht einmal ihren Groll befriedigen. Sie gab sich damit zufrieden, sich inständig zu wünschen, dass Tams Federhalter zerbrechen würde, damit das unangenehme Kratzen der Feder auf dem Papier aufhören würde.
Bis Tam plötzlich innehielt und sie ansah.
»Entschuldigung, Mademoiselle Antoinette«, begann sie und richtete sich auf. »Könnten Sie mir sagen, wie man ›Hypotenuse‹ schreibt?«
»Eh …«, sagte Nina überrumpelt.
Das war eine Falle, ganz sicher. Aber sie konnte nicht zugeben, dass sie es nicht wusste. Im Übrigen erinnerte sie sich, das Wort in Geometrie gehört zu haben – oder in Geschichte? Auf jeden Fall musste es ein kompliziertes Wort sei. Sie wagte es:
»H-i-p-p-o-t-h-e-n-u-h-s-e.«
Tam schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»›Hippo‹? Wie Hippopotamus? Sind Sie sicher?«.
»Natürlich nicht«, entfuhr es Nina mit zusammengekniffenen Lippen. »Ich wollte nur prüfen, ob du intelligent genug bist, es zu bemerken.«
›Sie stellt mir Fallen, das ist gut‹, dachte sie im selben Augenblick. Vielleicht hätte Nina aufstehen und zur Villa zurückgehen sollen, doch das tat sie nicht. Sie blieb mit Tam am Tisch sitzen und sah zu, wie diese sich wieder an ihre Aufgaben machte.
Einige Meter entfernt saß Hungh an einem Tisch vor einem Holzbrett, schnitt Bambussprossen und schüttelte leicht den Kopf, während er abwechselnd seine Tochter und seine junge Herrin unglücklich anschaute.
»Mademoiselle will Kuchen mit grünen Sojakernen heute Abend?«, fragte er, um die Atmosphäre zu entspannen.
»Oh! Hungh, ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu sagen«, antwortete Nina. »Ich bin heute bei den Teng zum Abendessen
Weitere Kostenlose Bücher