Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
sechzehn!«
»Bald sechzehn? Dann sind wir ja gleich alt!«
Nina lächelte ein wenig unglücklich. Sie setzte sich im Bett auf.
»Gleich alt, ja. Aber wenn ich sehe, wie du deine Hausaufgaben machst und wie du mich gepflegt hast, kommt es mir vor, als wäre ich viel jünger als du. Vollkommen unreif, nicht wahr?«
Tam antwortete nicht sofort. Sie musterte ihre Patientin. Dann setzte sie sich neben sie, Schulter an Schulter.
»Auf jeden Fall mag ich Sie lieber so«, murmelte sie.
»Dann sag: ›Ich mag
dich
lieber.‹ Wenn wir gleich alt sind, möchte ich lieber, dass du mich duzt.«
Tam lächelte, dann wurde sie plötzlich ernst.
»Das Problem ist, wenn
ich
die Wahrheit herausfinden konnte, können andere es auch.«
Nina fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Natürlich, Tam hatte recht. Und wenn man die Wahrheit entdeckte, würde sie in einem Waisenhaus landen. Vielleicht sogar in einem Erziehungsheim.
Nina hatte sich rückwärts auf das Bett fallen lassen. Sie war plötzlich so müde. Sie zog an Tams Hand, um sie zu zwingen, sich neben sie zu legen. Tam zögerte eine Sekunde, dann ließ sie sich ihrerseits zurückfallen.
Beide lagen jetzt mit den Köpfen auf dem einzigen Kopfkissen des Bettes. Ihre Haare vermischten sich, rehbraun und gelockt auf der einen Seite, schwarz und glatt auf der anderen. Weißer Pyjama und rosa Nachthemd. Es war ein hübsches Bild, doch das spielte für sie jetzt keine Rolle. Sie rührten sich nicht, blieben dicht aneinandergedrückt liegen und waren überrascht, diese Verbundenheit zu spüren, die zwischen ihnen entstand. Sie waren so verschieden, und doch …
Paul d’Armand hatte also recht behalten: Er hatte beiden gesagt, dass sie sich miteinander anfreunden könnten. Nur ging es hier nicht um Kinderspiele. Nina dachte an den Einbrecher, an den Tod ihres Vaters. Es lag Gefahr in der Luft, es ging um Leben und Tod. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, auf der Suche nach irgendetwas, das sie beruhigen würde, aber vergeblich. Schließlich drehte sie sich zu der Madonna aus Gips um, die auf ihrem Nachttisch stand.
»Kleine Mutter, hilf mir!«
»Ist es eine Schutz-Göttin?«, wunderte sich Tam und zeigte auf die kleine Figur.
Nina betrachtete die Madonna mit neuen Augen: So hatte sie sie noch nie angesehen.
»Ich weiß nicht. Ich denke, man kann es so sagen. Meine Mutter hat sie mir gegeben, und wenn ich mit ihr spreche, ist es, als spräche ich mit meiner Mutter. Ein bisschen wie der Altar deiner Vorfahren, nehme ich an.«
»Nur dass es nicht deine Mutter ist, die sie dir gegeben hat, sondern dein Vater, der sie dorthin gestellt hat. Ich habe es gesehen.« »Du hast recht, das habe ich ganz vergessen. Ich habe zwei Figuren. Diese da, die mir mein Vater gegeben hat, und eine andere von meiner Mutter. Sie ist in meinem Koffer.«
Sie zeigte auf das Durcheinander von Kleidern, die aus Miss Mellys Koffer hervorquollen.
»Umso besser!«, kommentierte Tam. »Ich fürchte, in den nächsten Tagen können wir zwei Schutz-Göttinnen gut gebrauchen.«
Nina schaute Tam an, dann die »kleine Mutter«. Die junge Annamitin sah aus, als glaubte sie daran.
Stimmte es? War es besser, zwei Schutz-Göttinnen zu haben, als eine einzige, um die Schwierigkeiten des Lebens zu bestehen? Sie zuckte mit den Schultern. Unsinn, es war doch nur eine Gipsfigur, an der noch dazu die Farbe bereits abblätterte.
›Wie in meinem Fieberwahn‹, dachte Nina noch.
Ein Gedanke kam ihr. Also war das, was sie während ihres Deliriums gesehen und gehört hatte, nicht unbedingt ausgedacht.
»War Professor Morton hier, während ich krank war?«, fragte sie plötzlich.
Tam war über die Frage nicht erstaunt.
»Ja. Zwei Mal. Ein erstes Mal, um dich zu treffen. Das zweite Mal hat er nicht nach dir gefragt. Er wollte sich im Haus umschauen. Er meinte, er hätte deinem Vater etwas überlassen, das er zurückholen wollte. Aber ich habe es ihm verboten.«
Tam wandte Nina das Gesicht zu. Sie sah, wie sie ihre Stirn runzelte.
»Warum dachtest du, Professor Morton oder Wenji würden hier einbrechen?«
Nina antwortete nicht sofort. Sie fragte sich: ›Kann ich mich Tam anvertrauen? Ist sie meine Freundin?‹
Sie wandte sich ihr zu und schaute ihr tief in die Augen. Sie waren braun, fast schwarz, mandelförmig, ruhig, aber gleichzeitig strahlend und voller Intelligenz.
›Ja‹, dachte Nina. ›Sie ist meine Freundin.‹
»Ich finde es verdächtig«, erklärte sie und betrachtete wieder die
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