Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
sich Tam, die Hände in die Hüften gestemmt. »Hätte ich den Arzt rufen sollen? Es wäre wirklich besser, das zu vermeiden. Vor allem, da Sie ziemlich abgenommen haben.«
»Ich habe abgenommen?«, sagte Nina und tastete verstört ihre Rippen ab.
»Ja, Sie haben allen Grund, sich Sorgen zu machen«, bekräftigte Tam. Und sie zeigte mit dem Finger auf das Oberteil des rosa Nachthemds mit Blumengirlanden: »Da ist nicht mehr viel. Nicht einmal mit dem Korsett geht das mehr.«
Sie führte den Finger an Ninas Gesicht, in dem die Augen noch glänzten.
»Außerdem hatten Sie durch das Fieber Babywangen. Wenn Sie sich in diesem Kinderbett gesehen hätten. Sie waren nur noch ein kleines, armseliges Ding, verloren in Ihren Betttüchern, das im Delirium ›Papa‹ und ›Maman‹ rief. Es war wirklich besser, dass ich mit Ihnen allein war, glauben Sie mir.«
Dieses Mal konnte Nina die Andeutungen nicht mehr ignorieren. Trotz allem bemühte sie sich, den Schein zu wahren.
»Ich weiß, dass ich für mein Alter nicht viel Busen habe. Maman hatte auch nicht viel, selbst mit vierzig Jahren nicht.«
»Für Ihr Alter!«, tobte Tam. »Ich habe auch nicht viel. Mit vierzehn Jahren ist das auch ganz normal. Können wir diese Komödie jetzt vielleicht beenden, Nina?«
Tam fixierte sie mit dem Blick einer zornigen Mutter. Nina warf die Flinte ins Korn.
»Wie hast du es gemerkt?«, fragte sie.
Tam stieß einen genervten Seufzer aus und ließ sich neben Nina auf das Bett fallen.
»Ich habe es nicht sofort verstanden, das gebe ich zu. Ich fand nur, dass Sie für ein junges Fräulein wirklich eine Null waren. Aber ich bin anderen Französinnen begegnet, die genauso solche Nullen waren wie Sie, als mein Vater Koch beim Generalgouverneur war. Die Töchter waren hübsch, raffiniert, liebenswert, aber unglaublich eingebildet und dumm.«
»Ich bin nicht dumm!«, empörte sich Nina.
Tam hob eine Hand als Zeichen des Friedens.
»Einverstanden. Sie sind nicht dumm. Und feige auch nicht. Das wird mir gerade bewusst. Wenn ich daran denke, dass sie bereit waren, gegen einen Einbrecher zu kämpfen!«
»
Raffiniert, liebenswert
– ich gebe zu, das sind nicht meine Stärken«, räumte Nina ein. Tam warf ihr einen Seitenblick zu, sah, dass die junge Französin ihre ganze Lebenskraft wiedergefunden hatte, und wagte, eine spöttische Flunsch zu ziehen. Nina antwortete ihr mit einem scherzhaften Ellenbogenstoß, und beide brachen in ein gemeinsames Gelächter aus. Es war das erste Mal, seitdem sie sich kannten.
»Nein, raffiniert sind Sie wirklich nicht, daran besteht kein Zweifel«, bestätigte Tam, als sie sich beruhigt hatte. »Sie sind mir sogar ziemlich auf die Nerven gegangen, mehr als die anderen Französinnen. Aber ich dachte nicht an Ihr Alter. Tatsächlich hatte ich am ersten Tag Ihrer Krankheit den Beweis.«
»Den Beweis?«, wiederholte Nina erschrocken.
»Keine Angst, ich habe ihn vernichtet.«
»Was denn? Was hast du vernichtet?«
»Den Brief Ihrer Freundin, der Lehrerin.«
»Meiner Freundin? Miss Melly hat mir geschrieben?«
»Sie hat Ihnen Ihren Koffer per Schiff zurückgeschickt. Da ist er. Er wurde an dem Abend gebracht, als Sie krank geworden sind, vor einer Woche. Mit einem Brief.«
Der Koffer! Jetzt erinnerte Nina sich: Am Abend vor ihrer Krankheit, als sie von der Familie Teng zurückgekehrt war, hatte sie im Flur der Villa Henriette einen Koffer mit ihren Sachen gesehen. Doch sie hatte so hohes Fieber, dass sie geglaubt hatte, zu träumen – oder vielmehr einen Albtraum zu haben.
»Bei dem Koffer war auch ein Brief«, wiederholte Tam. »Ich gebe zu, ich habe ihn gelesen, ich war neugierig. Warum hatten Sie zwei Koffer voller Kleidungsstücke? Da war etwas, was ich nicht verstand. Und weil ich so neugierig war, habe ich die beiden Koffer durchsucht.«
Nina hatte nicht den Mut, Tam ihre Indiskretion vorzuwerfen. Alles hing von nun an von ihrem Schweigen ab. Sie senkte das Kinn und ließ sie weiterreden.
»Miss Mellys Brief hat mir die Wahrheit aufgedeckt: Es sind ihre Kleider, die Sie tragen. Ihre eigenen sind in dem Koffer, der gerade eingetroffen ist. Es sind nicht die Kleider einer jungen Frau; es sind die eines jungen Mädchens. Also hatte Ihr Vater recht und Sie sind 1898 geboren.«
»Nein«, brummte Nina. »Mein Vater hielt mich für noch jünger, als ich bin.« Sie setzte sich auf das Bett und legte ihr Kinn auf ihre Knie. »Sieh dir nur diese Steppdecke an! Bärchen! Ich bin fünfzehn und werde bald
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