Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
dem Körper schaute eine Reihe nackter Beine hervor, und zwischen den Zähnen hindurch war hinten in der Kehle ein schwarz geschminktes heiteres Antlitz zu sehen. Der Drache schlängelte sich durch die Straße, umringt von einer Wolke schreiender und tanzender Kindern. Vor der Eingangshalle des Haupthauses der Tengs beugte sich ein alter Bediensteter über ein kleines Rad, an dem farbige Knallbonbons befestigt waren, dann wich er plötzlich zurück.
TAC-TAC-TAC-TAC-TAC!
Das kleine Rad begann sich zu drehen und gab eine Reihe heftiger Explosionen von sich. Der alte Mann richtete sich auf und stieß ein schelmisches Kinderlachen aus.
»Das ist ja mal ein lustiger Zeitvertreib für einen würdigen alten Mann!«, rief Nina aus. »Und diese Leute da?«, wandte sie sich an Tam und zeigte auf die nackten Beine, die unter dem Drachen aus Stoff hervorschauten. »Womit vertreiben die sich die Zeit?«
»Sie feiern den
Ersten Morgen
.«
Schnell versteckte sie ihren Zopf im Kragen ihres
áo dài
und sah, wie Nina mit ausgefahrenen Krallen auf sie zuging.
»Neiiiinnn! Erbarmen! Ich erkläre es dir ja.
Têt
oder auch: der Erste Morgen. So nennt man bei uns das Neujahrsfest.«
»Das Neujahrsfest im Februar? Seid ihr hier mit allem so spät dran?«
»Warum sollte das Neujahrsfest nicht im Februar sein anstatt im Januar? Wir haben nicht denselben Kalender, das ist alles.«
»Und Ostern ist im September?«
»Wir haben kein Ostern. Wir sind Buddhisten, schon mal gehört?«
»Kein Ostern, keine Schokoladeneier …«
»Nein, aber wir können den Ersten Morgen feiern: Schau!«
Das Schauspiel war tatsächlich atemberaubend: Eine riesige Menschenmenge war, woher auch immer, plötzlich aufgetaucht und hatte die Straße bevölkert. Die prächtigen Tuniken hatten die schwarzen Kostüme ersetzt und die Turbane in Form von Diademen die kegelförmigen Hüte. Man sah, wie sich die Leute kleine Schachteln schenkten und sich gegenseitig voreinander verneigten als Zeichen des Danks. Knallkörper explodierten überall, Prozessionen von weiß geschminkten Männern mit riesigen Mitras aus goldfarbener Pappe zogen tanzend zu dem Klang von Zymbal und Tambour vorbei. Die Festatmosphäre war bis zu den Bäumen gelangt, deren Blüten leuchtender und parfümierter als zuvor erschienen. Sogar der Himmel war mit von der Partie: Eine echte Sonne hatte die weißen und mit Feuchtigkeit beladenen Wolken ersetzt, die Nina bis dahin gesehen hatte.
»Schau mal!«, rief Nina. »Da ist die Familie Teng.«
Tam drehte sich zu dem großen Wohnhaus um. Ungefähr zwanzig Personen waren herausgekommen und standen in der Vorhalle, in drei Reihen aufgestellt, die ältesten vorne, die jüngsten hinten. Unten an der Treppe befand sich eine andere Gruppe, die sich aus den Bediensteten zusammensetzte und von dem alten Mann mit den Knallkörpern angeführt wurde. Mehrere von ihnen trugen hübsche lackierte Schachteln, die sie vor sich hielten, und verneigten sich.
Der Alte stürzte sich in eine lange Rede auf Annamitisch und verneigte sich erneut.
»Der Erste unter den Bediensteten richtet der Familie Teng seine Neujahrswünsche aus«, erklärte Tam. »Er wünscht ihr Wohlstand, Glück und Fruchtbarkeit. Dann lässt er seinem Kompliment
lais
folgen – so nennt man die Höflichkeitsformeln auf Annamitisch. Und dann werden die anderen den Kindern mit Bonbons gefüllte Schachteln darbieten. Als Dank werden die Tengs ihnen Geschenke und Geld schenken.«
»Da ist Wenji«, bemerkte Nina.
Der junge Mann betrat den Schauplatz, er kam um die Ecke des Wohnsitzes Teng. In weißem Hemd und weißer Hose, mit düsterem Blick und seiner Haarsträhne in der Stirn.
›Er hat etwas Romantisches an sich‹, sagte sich Nina. Wieder einmal war sie verwirrt. Einerseits fühlte sie sich von ihm angezogen, andererseits verabscheute sie seine Neugier. Im Übrigen, woher kam er in diesem Augenblick? Warum kam er nicht aus dem Haus wie seine Geschwister? Warum tauchte er genau dort auf, wo der Hauptweg den kleineren Pfad zur Villa Henriette kreuzte?
Sie war drauf und dran, ihre Gedanken mit Tam zu teilen, als diese Nina plötzlich ohne Vorwarnung mit einem kräftigen Ruck nach hinten zog.
»Er darf dich nicht sehen«, flüsterte sie und schob sie zwischen die großen roten Blüten eines Hibiskusstrauches.
»Wieso nicht?«
»Du bist nicht frisiert, und dein Kleid ist falsch zugeknöpft. Man könnte dich fast für ein kleines Mädchen halten, das sich für den Karneval verkleidet hat!
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