Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
glauben!«
Sie hatte eine echte Unbekannte vor sich – und was für eine Unbekannte! Eine junge, große und schlanke Frau, mit schmaler Taille und einem strahlenden Dekolleté, das eine samtene Haut und elegante Schultern offenbarte. Ihr Schwanenhals war mit einer schwarzen Schleife geschmückt, der lockere Haarknoten, aus dem elegant ein paar rot schimmernde Locken entwichen, war mit winzig kleinen Perlen besteckt. Sie passten hervorragend zu denen des blassblauen Seidenkleids.
Wortlos trat diese wundervolle junge Dame ungezwungen ein, drehte sich zur Seite, den Blick die ganze Zeit auf ihre Richterin gerichtet, und öffnete mit einer schwungvollen Handbewegung ihren Fächer. Ein geheimnisvolles Lächeln erschien auf ihren Lippen, das sie langsam hinter den Schwalben versteckte, die auf der Seide flatterten.
»Wie schön du bist!«, entfuhr es Tam gegen ihren Willen.
Ein langgezogenes
Pfffff
war die Antwort.
»Hör auf«, brummte Nina und nahm wieder Haltung an. »Du bringst mich zum Lachen, und dann verrutschen die Taschentücher, die mein Dekolleté aufbauschen sollen.«
»Nun, unsere Arbeit hat sich gelohnt, glaub mir. Wenn es dir gelingt, die ersten Sätze ohne Schimpfwörter zu überstehen, hast du gewonnen! Sie werden nichts bemerken!«
Ein Kaiser und zwei Wellensittiche
Der Saal, den Nina betrat, ähnelte einer Fata Morgana. War es Wirklichkeit oder eine optische Täuschung? So wie man sie von Kaleidoskopen oder doppelt belichteten Fotografien kennt.
Vor ihren Augen erstreckte sich eine lange Reihe dünner Säulen aus bemaltem Holz, zu beiden Seiten von hohen, schmalen Vasen flankiert. Auf jeder der Säulen flackerte die Flamme einer Petroleumlampe. Richtige Wände gab es nicht. Oder vielmehr bestanden sie aus großflächigen, mit Vögeln verzierten Wandschirmen, die zu einer Art Labyrinth angeordnet waren. All das wiederholte sich scheinbar ins Unendliche und spiegelte sich auf einem so glänzenden Boden, dass er der Oberfläche eine Sees glich.
Zwei Reihen Soldaten mit Turbanen bildeten ein beeindruckendes Ehrenspalier. Sie standen so reglos da, dass es schien, als gehörten sie zur Kulisse wie die Säulen, die Vasen oder die Stelzvögel an den Wänden. Auch ihre Beine spiegelten sich in dem glänzenden See des Bodens.
Nina blieb am Rand stehen und zögerte, ihr war schwindlig. Sie hatte den Eindruck, als befinde sie sich außerhalb der Zeit; wenn sie weiterginge, würde sie in einen wundersamen Ozean sinken.
Doch die Soldaten mit Turbanen warteten, sie musste also weitergehen. Im nächsten Augenblick stand wie aus dem Nichts ein annamitischer Butler vor ihr.
»Mademoiselle?«, sagte er und verneigte sich.
»Ich … ich bin …«, stammelte Nina, dann fielen ihr plötzlich Tams Lektionen ein. Sie wandte ihren Blick von dem Bediensteten ab und ließ ihn in die Ferne schweifen, dann sagte sie lässig: »Antoinette d’Armand.«
Der Bedienstete trat einige Schritte zurück, bedeutete Nina, ihm zu folgen, und verneigte sich unablässig. Am Ende des Ehrenspaliers drehte er sich um und rief aus:
»Mademoiselle Antoinette d›Armand.«
Die Soldaten wichen zur Seite und Nina hatte das Gefühl, ins Innere des Palastes gezogen zu werden. Als würde eine unsichtbare Macht sie über den glänzenden Boden voranschreiten lassen, glitt sie in ihren feinen Stiefeln dahin. Dann tauchte ein weiterer Saal auf – und im nächsten Moment waren Hunderte von Augenpaaren auf sie gerichtet.
›Hölle und Verwesung, Hölle und Verwesung, Hölle und Verwesung‹, dachte Nina.
Die Festgesellschaft bestand aus Annamiten und Franzosen, alles, was Rang und Namen hatte, schien hier versammelt. Der Saal glänzte vor Diamanten, Gold, Seide und Straußenfedern.
Schließlich zog ein Blick ihre Aufmerksamkeit auf sich, obwohl er von recht weit hinten kam. Zwei winzig kleine Funken in einem kleinen blassen Gesicht, über dem ein Diadem steckte: ein kleines, in Gold gekleidetes Männchen, wie verloren auf seinem Thron, der breit genug war, dass drei wie er darauf Platz gehabt hätten.
Nina bemühte sich, alles Übrige zu vergessen, und ging geradewegs auf das kleine, in seinem Anzug versunkene Geschöpf zu. ›Schwer, für diesen Duy Tân Respekt zu empfinden‹, sagte sie zu sich. ›Man würde meinen, es sei ein Spatz.‹ Es war eher Mitleid, was sie verspürte. Doch sie dachte an Tam, und es gelang ihr, eine bewundernde Haltung zu bewahren. Sie verneigte sich und murmelte sehr vornehm:
»Ihre Majestät, Ihre Einladung
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