Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Erwartest du, dass er dir eine Süßigkeit schenkt?« Nina legte ihre Hände an den Kopf.
»Hölle und Verwesung! Ich habe meine Haare nicht hochgesteckt! Schnell, gehen wir nach Hause.«
Erst als sie sich hastig durch die Vegetation am Rand des Wegs geschlängelt und die Villa erreicht hatten, konnte Nina Tam ihre Sorge mitteilen.
»Hast du es bemerkt?«, fragte sie atemlos.
»Ja. Wenji kam von hier, nicht aus seinem Haus. Er ist nicht ganz koscher, dieser Bursche.«
Nina ging nicht auf das herablassende Wort ein, das bestätigte, was sie angenommen hatte: Tam hatte etwas gegen Wenji. Sie flitzte in Richtung des Labors und rief über die Schulter hinweg: »Ich hoffe, er hat nicht überall herumgestöbert! Er hätte das Foto der Madonna aus Jade entdecken können.«
Tam und Nina sausten zum Labor. Aber in dem kleinen Raum war nichts angerührt worden.
Das Foto, auf dem sich die feinen Züge der Figur aus kostbarem Stein abzeichneten, lag noch da.
»Ich bin sicher, dass er es nicht gefunden hat«, bemerkte Tam.
»Wenn er das Foto eines Gegenstandes gesehen hätte, nach dem er sucht, hätte er zufriedener ausgesehen. Ich fand aber, dass er eher besorgt aussah, du nicht?«
»Ähm … ich hatte nicht die Zeit, ihn anzuschauen.«
Nina wollte nicht zugeben, dass sie Wenji »romantisch« gefunden hatte. Sie begnügte sich damit, das Foto zu nehmen und zwischen den anderen zu verstecken.
»Auf jeden Fall«, sagte Tam, »wirst du schon heute Abend mit deinen Erkundungen beginnen können: Du bist in der Verbotenen Stadt zum Fest des Ersten Morgens eingeladen.«
»Ach ja, die Einladung!«
Nina kehrte in ihr Zimmer zurück, um die Karte zu holen, die sie auf dem Nachttisch liegen gelassen hatte. Noch einmal las sie:
Der Kaiser Duy Tan und ihre Majestät, die Königin Phuong, haben das Vergnügen, Sie zu bitten, das Fest des Ersten Morgens in ihrer Gesellschaft heute Abend bei Sonnenuntergang im Ehrensaal des Palastes zu feiern.«
»Das ist eine große Ehre!«, wunderte sich Tam.
»Eine
zu
große, findest du nicht? Ist es nicht seltsam, dass man mich, die Tochter des Fotografen, einlädt, die gerade erst aus Frankreich angekommen ist?«
Tam runzelte die Stirn. Nina hatte recht.
»Die Töchter des Generalgouverneurs werden immer eingeladen«, sagte sie. »Doch Monsieur d’Armand nie. Unter den Franzosen hatte er keinen wichtigen Posten.«
»Ich habe das Gefühl, dass man mir eine Falle stellt.«
Tam schaute Nina lange an.
Sie saß auf ihrem Bett, hatte die Knie angezogen, die Füße gespreizt und war noch ganz blass vor Müdigkeit. Sie sah verletzlich aus.
»Du kannst ablehnen«, sagte Tam. »Du könntest schreiben, du seist krank.«
»Das wäre dumm. Wenn diese Kochtöpfe, die man auf dem Foto sieht, im Palast der Königin sind, muss ich auf jeden Fall hingehen und nachsehen.«
»Es sind Urnen. Aber du hast recht. Eine solche Gelegenheit, die Verbotene Stadt zu betreten, wird sich so schnell nicht wieder ergeben. Aber …«
»Aber?«, fragte Nina verärgert.
»Es gibt einen Haken.«
»Einen Haken? Was meinst du mit Haken?«
»Dich.«
Nina war zu überrascht, um zu antworten, und fragte sich, ob sie lachen oder beleidigt sein sollte. Dann folgte sie Tams Augen zu ihren Füßen, ihren Beinen, ihren ungekämmten Haaren, ihrem falsch zugeknöpften Kleid … Sie verstand, was sie sagen wollte. Die Einladung richtete sich an Antoinette d’Armand, eine junge Person, die reif genug war, um sich der Angelegenheiten ihres verstorbenen Vaters anzunehmen. Nicht an ein verkleidetes junges Mädchen.
Sie hörte auf, an ihrer Locke zu kauen, und nahm sofort eine würdigere Haltung ein.
»Trotzdem, du übertreibst«, sagte sie. »Alle sind bis jetzt drauf hereingefallen. Sonst wäre ich nicht bis hierher gekommen.«
»Das heißt: Solange du nicht den Mund aufmachst, funktioniert es. Du bist schön, elegant, du bist eine Erscheinung, das ist sicher. Aber wenn du sprichst …«
»Na was, wenn ich spreche?«
»Du bist unfähig, drei Sätze zu sagen, ohne einen Ausrutscher zu machen.«
Betroffen ließ Nina die Schultern sinken. Sie hatte nicht einmal mehr den Mut, wütend zu werden. Sie wusste nur zu gut, dass Tam recht hatte. Fremden gegenüber im Vorbeigehen Guten Tag zu murmeln oder einem Bediensteten ein Trinkgeld zu geben, das bekam sie gerade noch hin. Doch sobald sie eine Unterhaltung führen musste, verhedderte sie sich in der Syntax, verlor ihren Faden oder ließ grobe Dummheiten verlauten.
»Ist es so
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