Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
ehrt mich …«
Eine dünne Stimme antwortete ihr in einem ebenso klaren Französisch wie das von Tam.
»Ich mochte Ihren Vater sehr, Mademoiselle d’Armand. Wir sind hocherfreut, dass seine Tochter unter uns ist.«
Das Gesicht war emotionslos, das Diadem bewegte sich nicht. Aber Nina war sich sicher, eine große Traurigkeit in der Stimme des Kindes vernommen zu haben. Auf einmal schwand all ihre Furcht und Schüchternheit dahin. Vor ihr saß nicht der Kaiser von Annam, sondern es war ein kleiner Junge, den Paul d’Armand gemocht hatte. Es war kein feindlicher Palast, in dem sie sich befand, es war ein wunderbarer Ort, den ihr Vater fotografiert hatte, wie er die Pyrenäen fotografiert hatte.
»Ich hoffe, Ihnen dieselben Dienste erweisen zu können wie er, Majestät.«
Und sie wich zurück, um für die anderen Gäste Platz zu machen, die der Bedienstete hinter ihr ankündigte.
Aber ehe sie in die Menge tauchte, hatte sie Zeit, in den Augen des Kaisers ein besonderes Licht wahrzunehmen. Es war wie ein stummer Ruf.
›Er wirkt fast, als wollte er mir etwas Vertrauliches mitteilen‹, dachte Nina, als sie Duy Tân ein letztes Mal anschaute.
»Mademoiselle d’Armand!«
Nina drehte sich um. Zwei junge blonde Frauen kamen auf sie zu, schlank und anmutig, die eine in einem grünen, die andere in einem rosafarbenen Satinkleid. Nina war sich sicher, die beiden Wellensittiche vor sich zu haben.
›Sicher sind sie das‹, dachte sie und rief sich Tams Beschreibung in Erinnerung:
hübsch und dumm
. Man musste nur ihre Augen anschauen, wunderschön – und gleichzeitig leer wie ein wolkenloser Sommerhimmel.
»Mein Gott, wie traurig«, rief der Wellensittich in Grün aus. »Ihr Vater! Was für ein Drama. Unser ganzes Mitgefühl …«
Der Wellensittich in Rosa fuhr fort: »Aber welche Freude, Sie zu treffen! Und was für eine schöne Überraschung, zu sehen, dass Sie in unserem Alter sind. Das hatten wir nicht erwartet!«
»Die Freude und Ehre sind ganz meinerseits«, antwortete Nina und vergaß nicht, auf ihre Aussprache zu achten. »Gewiss habe ich die Ehre, mit den Töchtern des Generalgouverneurs zu sprechen.«
Die beiden Schwestern stießen entzückte Gluckser aus.
»Sie kennen uns?«
»Mein Vater hat mir so viel von Ihnen erzählt«, bekräftigte Nina in demselben Ton. »Er empfand große Bewunderung für Ihre Intelligenz.«
Die beiden Schwestern schauten sich verwundert an. Sie waren es nicht gewohnt, für diesen Zug ihrer Persönlichkeit Komplimente zu bekommen. Mademoiselle grüner Wellensittich war die Erste, die ihren glückseligen Gesichtsausdruck wieder annahm.
»Was für ein Glück, Sie zu haben!«, flüsterte sie. »Endlich jemand, der aus Paris kommt. Sagen Sie uns, was dort los ist? Worüber spricht man dort? Man sagt, dass Sarah Bernhardt einen Liebhaber hat, der dreißig Jahre jünger ist als sie. Ist das wahr?«
Nina kam nicht aus Paris und wusste nicht viel über Sarah Bernhardt, außer dass sie eine berühmte Schauspielerin war. Dennoch nahm sie allen Mut zusammen, um das Gespräch fortzusetzen.
»Oh, Sie wissen es nicht? Sie hat immer mindestens drei Liebhaber gleichzeitig! Der Name des Prinzen von Wales fällt hier und da, und der von Roland Garros …«
»Roland Garros? Der Flieger? Unglaublich, wie aufregend. Sie müssen uns unbedingt besuchen und uns alles ausführlich erzählen!« »Sie müssen uns über die neuste Mode aufklären. Wo haben Sie denn dieses ungewöhnliche Modell gefunden? Sicher bei Paquin, nicht wahr?«
»Aber nein, in London«, antwortete Nina, ohne eine Spur zu zögern, und nahm eine verschwörerische Miene an.
»Stellen Sie sich vor, es kommt von
Miss Melly
. Eine Schneiderin, die zu einer großen Zukunft berufen ist. Man sagt, dass sie in der kommenden Saison Furore machen wird.«
»Wirklich?«, erkundigte sich Mademoiselle grüner Wellensittich, von der Entdeckung fasziniert. »Ich hätte nicht …«
»Aber ja«, fiel ihr die Schwester selbstbewusst ins Wort. »
Miss Melly!
Ich habe in
Echo modes
einige Kleider von ihr gesehen.«
»Es ist das Schlimmste, das hier zu ertragen«, sprach Mademoiselle grüner Wellensittich verärgert weiter. »Nicht zu wissen, was Mode ist. Oder es sechs Monate zu spät zu erfahren.«
»Wir fühlen uns hier so weit weg von allem. Und nie passiert irgendetwas.«
»Erlauben Sie mir, Ihnen zu widersprechen«, antwortete Nina, die sich immer wohler fühlte. »Dass wir uns heute Abend begegnen, ist doch alles andere als
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