Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
unterdrückte ein Lächeln. Da sie sah, dass es auch dem Kaiser schwerfiel, ernst zu bleiben, zwinkerte sie ihm zu. Und das Kind blinzelte seinerseits mit den Augen, ohne dass es ihm gelang, sie genau zu imitieren. Die Gesichter der Mortons nahmen eine dunkelviolette Färbung an, so tief saß die Kränkung. Sie wichen zurück und verschwanden in der Menschenmenge.
Die Königin Phuong stieß die Tür mit einer verstohlenen Handbewegung auf.
»Beeilen wir uns. Wir haben nur wenig Zeit.«
Die Göttin Kwan Yin
»Folgen Sie mir.«
Die Königin ging nun schnellen Schrittes und hielt ihren Sohn fest an der Hand. Sie schien so in Gedanken zu sein, dass sie gar nicht bemerkte, wie schwer es ihm in seinem schweren, goldbestickten Gewand fiel, ihr zu folgen.
Wie selbstverständlich ergriff Nina seine andere Hand. Das Kind blickte sie erst verwundert, dann aber dankbar an.
Die Königin schwieg, was Nina seltsam vorkam. Noch seltsamer aber war, dass sie häufig über ihre Schulter schaute, als fürchtete sie, überwacht zu werden. Nina ihrerseits wagte nicht, ein Gespräch zu beginnen. Sie hatte das Gefühl, jedes belanglose Wort wäre hier fehl am Platz. Sie war sich inzwischen sicher, dass die Königin sie nicht zu einer Besichtigung des Palastes mitnahm, sondern dass sie eine ernstere Absicht hatte.
Sie gingen durch mehrere leere Säle mit glänzendem Parkett und goldenen Decken. Dann verließen sie den Palast, noch immer schweigend, stiegen eine kleine Treppe hinab und überquerten einen weitläufigen, gepflasterten Hof, der von Säulenhallen und Gemäuern umringt war. Hier und da brannten Fackeln, neben denen Wachen in feierlichen Gewändern standen.
Auf der anderen Seite des Hofes befanden sich einige weniger prachtvolle Gebäude. Sie waren von einem Säulengang umgeben, ihre Mauern bestanden aus lackierten Ziegeln und die Dächer hatten die typische geschwungene Form, die Nina bereits kannte. Davor hoben sich in dem tanzenden Licht der Fackeln riesige Kessel aus Bronze ab.
›Die Urnen‹, sagte Nina zu sich. ›Da sind wir also!‹
»Wir betreten die Verbotene Stadt«, murmelte die Königin.
»Ich dachte, außer dem Kaiser und seiner Familie dürfe niemand sie betreten.«
»Ich bin der Kaiser«, sagte eine helle Stimme. »Und ich lade ein, wen ich will.«
Das Kind runzelte die Stirn, um seine Autorität besser zu bekräftigen.
›Langsam beginnt er mir zu gefallen.‹
Die Königin stieg einige Stufen hinauf, die zu einer der Galerien führten. Oben auf der Treppe fuhr Nina zusammen. Zu beiden Seiten erhoben sich zwei riesige Fratzen. Bunt und mit gefletschten Zähnen und vorstehenden Augen schwangen sie Lanzen und Degen, als wollten sie jeden Eindringling am Eintreten hindern. Im Licht der Fackeln schienen sich ihre wilden, verzerrten Gesichter und die Schilder ihrer Rüstungen zu bewegen.
»Das sind nur Statuen!«, amüsierte sich der kleine Kaiser, als er spürte, wie sich die Hand seines Gastes verkrampfte.
Nina zuckte mit den Schultern, doch sie hatte keine Zeit zu sagen, was sie über den Künstler dachte, der diese grotesken Werke geschaffen hatte. Schon ging die Königin durch eine breite Tür.
Dort blieb sie endlich stehen.
Nina blinzelte mit den Augen. Der Ort war dunkel, wohlriechend, geheimnisvoll. Unbewegliche Gestalten, die in einen Nebel aus duftendem Rauch getaucht waren, bevölkerten den Raum. Als sie sich an diese undurchdringliche Atmosphäre gewöhnt hatte, konnte Nina in einiger Entfernung Lichter und mit Gesichtern bemalte Wände erkennen. Von den Decken hingen spiralenförmige Lampen herab, die einen schweren Duft verströmten.
»Das ist Weihrauch«, erklärte der Kaiser und zeigte auf die Spiralen.
»Kommen Sie hier lang«, flüsterte die Königin.
Und ohne die Hand ihres Sohnes loszulassen, zog sie Nina auf die Lichter zu.
»Wo sind wir?«, wagte Nina schließlich zu fragen.
»In der Pagode der Göttin Kwan Yin«, erklärte die Königin Phuong. »Hier können wir in Ruhe miteinander reden.«
Nina erkannte, dass die unbeweglichen Gestalten in diesem Raum ebenfalls Statuen waren. Diese aber schnitten keine Grimassen, im Gegenteil. Die glatten Gesichter strahlten Sanftheit aus: Viele hatten die Augen geschlossen und lächelten ruhig, einige saßen im Schneidersitz, andere standen und hatten eine Hand erhoben, wieder andere lagen. Nina hatte das Gefühl, durch eine Ansammlung stummer, vom Himmel herabgefallener Engel zu schreiten.
Und dann sah sie sie! Eingehüllt in einen
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