Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Gott«, seufzte die Kreatur mit den Stockwerken, »nun fängt all das wieder von vorne an.«
Sie wandte sich an Madame Morton und stützte sich auf deren Arm, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht.
»Verstehen Sie nun, was ich Ihnen versucht habe, zu erklären? Mein Gott, dieses stolze, überhebliche, dumme Kind! Sie ist eine Kriminelle, eine …«
»Ich verstehe Sie vollkommen«, gab ihr die graue Dame mitleidig recht. »Aber ich sage es noch einmal, Sie müssen sich keine Sorgen machen, Madame. Wir werden die Dinge in die Hand nehmen. Wenn ein Wesen so von Grund auf schlecht ist, kann eine Frau allein es nicht zähmen und auf die rechte Bahn zurückführen. Wie der Zufall es will, habe ich gute Kontakte zu verschiedenen Waisenhäusern. Überlassen Sie nur ruhig alles mir.«
Nina spürte, wie ihr Blut mit einem Mal gefror. Wo eben noch die Wut geherrscht hatte, breitete sich jetzt die blanke Panik aus. Was sie schon lange befürchtet hatte, würde jetzt tatsächlich eintreten.
Man würde sie einschließen. Man würde ihr einen Stempel aufdrücken, sie wäre eine Diebin, eine Kriminelle …
Nein!
Nina wich noch einen Schritt zurück und stand jetzt fast schon im Garten. Aus dem Augenwinkel sah sie Tam und Wenji. Die beiden standen abseits auf dem Weg, der zum Wohnhaus Teng führte. Sie tuschelten und hatten unmöglich hören können, was sich in der Villa Henriette abgespielt hatte.
Und wenn doch? In dem Fall wäre es zu spät, den beiden irgendetwas erklären zu wollen. Ohne auch nur einen weiteren Moment lang nachzudenken, kehrte sie der Villa Henriette den Rücken und rannte los, den Weg entlang in Richtung Tor.
Als sie an Tam vorbeilief, rief sie ihr zu: »Nein! Niemals! Nicht ins Waisenhaus!«
Tam versuchte, ihren Ärmel zu fassen zu bekommen, doch Nina befreite sich wütend und rannte weiter.
»Nina! Tu das nicht!«, rief Wenji.
Doch es war zu spät, sie hörte ihn schon nicht mehr. Sie floh. Sie wusste nicht, wohin, wusste nur, dass sie weg von hier wollte, sehr weit weg. Irgendwohin, wo niemand sie einsperren konnte.
Nina war schnell, sehr schnell. Keine Madame Morton dieser Welt würde sie einholen können.
In Sekundenschnelle befand sie sich auf der Straße und lief den Weg wieder zurück, der zu dem Fluss der Düfte führte. Dort blieb sie atemlos stehen. Was tun? Wohin jetzt? Hinter ihr lag die Stadt Hué, wo kein Ort ihr als Schutz dienen konnte. Alles dort war jetzt feindselig. Vor ihr breitete sich das dunkle Gewässer des Flusses aus. Auf der anderen Seite lag der Wald – das Gebiet des mächtigen Tigers. Doch der Tiger war tot, und jenseits seines ehemaligen Reiches lag der Lotusteich.
Nina sah in Gedanken die Räume des Pavillons ohne Türen, die Kissen und die Körbe voller Früchte vor sich. Ob die Königin noch dort wäre? Sicher nicht. Sie musste über den Fluss fortgefahren sein. Nina könnte wenigstens die Nacht dort verbringen, weit weg von Hué, und sich ausruhen und nachdenken.
Aber wie sollte sie dorthin kommen? Jetzt, da die Dunkelheit hereingebrochen war, konnte sie endgültig mit keinem Boot mehr rechnen. Und war der Tiger auch wirklich tot?
Und dennoch: Der einzig mögliche Zufluchtsort lag auf der anderen Seite des Flusses.
Tam hatte gesagt, die Jungen in ihrer Klasse hätten kein Problem damit, über den Fluss zu schwimmen.
Nina war größer als die Jungen in Tams Klasse. Sie war es gewohnt, in den Pyrenäen zu wandern und in den Seen des Hochgebirges zu schwimmen. Sie steckte ihre Hand in das Wasser; es war lauwarm und die Strömung war schwach.
›Die Wasserschlangen sind nicht gefährlich‹, sagte sie sich immer wieder. Sie begann, ihre Schnürsenkel zu lösen.
»Dann steht es wohl fest, dass ich mich hier im Schwimmen üben werde!«, schimpfte sie vor sich hin und lächelte bitter.
Als sie fertig war, band sie ihre Schuhe zusammen und hängte sie sich über die Schultern. Dann rollte sie ihren Rock hoch und knotete ihn um die Taille. In langen Unterhosen stieg sie ins Wasser. Der Boden war weich und fiel flach ab. Nina war von dem Fluss wie angezogen – in diesem Augenblick erschien er ihr freundlicher als der vermeintlich so feste Boden unter den Füßen, den sie hinter sich ließ.
Dennoch sah sie in dem Moment, als sie keinen Grund mehr spürte, wieder die rote Mähne des Tigers vor sich, und hielt inne. Noch war sie nicht weit vom Ufer entfernt. Ihre Haare sträubten sich.
Im selben Moment, in dem sie das Tuckern eines Motors hörte, bewegte sich
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