Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
jegliche Erklärung bewusst hinausschob, als wollte er diesen schönen Moment des Sonnenuntergangs auf dem Fluss der Düfte so lang wie möglich auskosten.
»Sie haben mich gesucht?«, wiederholte Nina, nun schon deutlich weniger selbstsicher.
Wenji lächelte ein letztes Mal. Dann entschied er sich, die bisher eingenommene Rolle aufzugeben.
»Ja«, antwortete er jetzt ernst. »Hungh ist zu mir gekommen. Er hat mich gebeten, mich auf die Suche nach Ihnen zu begeben. Er sagte, eine Dame sei für Sie in der Villa Henriette eingetroffen und habe den Wunsch geäußert, mit Ihnen zu sprechen. Er sagte, sie sei aus Saigon gekommen.«
»Mein Gott, Miss Melly!«
Tam und Nina tauschten einen Blick, der jedes Wort überflüssig machte. Und sofort wurde beiden klar: Sie mussten auf dem schnellsten Weg zurückkehren, um zu verhindern, dass Miss Melly mit irgendjemandem über Ninas tatsächliches Alter spräche.
Entlarvt
Als Nina vor der Tür der Villa Henriette stand, hatte sie eine schreckliche Vorahnung. So schnell sie konnte, war sie von der Anlegestelle bis zum Haus gerannt, gefolgt von Tam und Wenji. Und den ganzen Weg am Flussufer entlang hatte sie für sich wiederholt, was sie Miss Melly sagen wollte, um sie ins Vertrauen zu ziehen und sie anzuflehen, nicht zu verraten, dass sie fünfzehn Jahre alt war.
Doch nun, als sie sich auf der Türschwelle der Villa befand, schnürte ihr ein entsetzlicher Verdacht die Kehle zu. Dort vor ihr im Flur stand ein Regenschirm.
»Schau!«, flüsterte sie Tam zu, als diese völlig außer Atem neben ihr stand.
Tam warf einen Blick auf das Ding aus gelb-blauem schottischem Stoff mit einem dicken schwarzen Knauf, das im Flur an der Wand lehnte.
»Und? Das ist ein Regenschirm. Miss Melly hat ihren Regeschirm …«
Sie unterbrach sich und begriff plötzlich Ninas Reaktion.
»Willst du sagen, dass Miss Melly niemals einen so hässlichen Regenschirm hätte?«
»Ganz genau. Die Dame, die für mich angekommen ist«, sagte Nina in einem angsterfüllten Flüsterton, »ist nicht Miss Melly!«
»Und wer ist sie dann?«, wunderte sich Tam.
Die Antwort wurde ihr im nächsten Augenblick geliefert.
Denn in diesem Augenblick trat eine außerordentliche Kreatur aus dem Salon. Der Kleidung nach zu urteilen, schien es eine Frau zu sein. Und doch musste Tam die Augen zusammenkneifen und noch einmal genau hinsehen – niemals hätte sie sich vorstellen können, dass eine Frau solche Formen haben könnte. Am ehesten ließ sich die Erscheinung wohl mit einem Haus vergleichen: Das Erdgeschoss bestand aus einem schwarzen, nach oben hin schmaler werdenden Rock. Das enge Korsett und die weit herausragende Brust stellten das erste Stockwerk mit einem ausgesprochen großzügigen Balkon dar, und darüber thronten als Dachgeschoss ein Doppelkinn, ein kleiner Kopf, ein eigenartig geformter Knoten aus Haaren und ein mit einer Margerite verzierter Strohhut. Irgendwo unterhalb des Strohdaches gab es zwei Augen und einen kaum sichtbaren Mund, eingezwängt zwischen Kinn und gerunzelter Stirn. Tam traute ihren Augen nicht.
Lange konnte sie sich der ruhigen Betrachtung allerdings nicht hingeben, denn zu allem Überfluss fing das Gechöpf nun auch noch an zu sprechen, wenn auch mit der Stimme, die Tam an den Balzgesang eines Truthahns erinnerte.
»Antoinette!«, gluckste sie. »Da bist du ja endlich! Aber wie siehst du denn aus, du unglückseliges Geschöpf? Was um alles in der Welt muss in dir vorgegangen sein, dass du dich in so unaussprechlich lächerliche Gewänder gehüllt hast?«
Nina packte Tams Arm, als wollte sie Schutz suchen.
»Meine Tante«, flüsterte sie ihr zu. Und in unheilverkündendem Ton fügte sie hinzu: »Hölle!«
»Und natürlich«, sprach die Tante weiter, »verbringst du deine Zeit wie immer mit Schmutzfinken.«
»Damit meint sie dich«, übersetzte Nina für Tam. »Eigentlich wollte sie sagen:
Es ist ja selbstverständlich, dass du dir unter allen Menschen in diesem Land am Ende der Welt ausgerechnet eine schmutzige, minderbemittelte Bedienstete als Freundin auswählst
.«
»So etwa habe ich es auch verstanden«, antwortete Tam, ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Sie trat einen Schritt vor, setzte ein unterwürfiges Lächeln auf und tauchte in eine effektvolle Verbeugung ab. Die Hände hatte sie über dem Kopf gefaltet.
»Chère Madame«, sagte sie mit einem lächerlich verzerrten chinesischen Akzent. »Seien Sie willkommen in Anamm.«
Ohne zu antworten,
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