Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
mächtige Tiger wird sich in einem anderen Leben rächen. Sein Geist wird wiederkommen, um noch mehr Bauern zu töten.«
»Ich nehme kaum an, dass man dir solche Dinge auf deinem Collège beibringt«, sagte Wenji ironisch. »Der Tiger ist ein gefährliches Raubtier. Keine Gottheit.«
Doch die junge Annamitin konnte nicht umhin zu zittern, als sie an den Zorn des Tigergottes dachte. Sie suchte eiligst Schutz in der Dschunke.
Wie um das Orakel zu bekräftigen, war ganz in der Nähe ein Grollen zu hören. Der Ton war so rau und tief, dass Nina das Gefühl hatte, die Vibrationen bis in ihren Bauch zu spüren. Dennoch veranlasste etwas in ihr sie dazu, die Landschaft mit den Augen abzusuchen, um das Tier zu sehen, und sei es nur für einen Augenblick. »Komm an Bord, schnell!«, brüllte Tam. »Er ist ganz nah!«
Doch Nina war wie gelähmt und rührte sich immer noch nicht.
Ohne ein Wort zu sagen oder sie um Erlaubnis zu bitten, ging Wenji zu ihr, nahm sie in den Arm und trug sie bis zum Anlegesteg. Ein Orkan von Gefühlen überwältigte Ninas Herz, doch sie hätte nicht sagen können, wem in ihrem Zustand der Kopflosigkeit der größte Part zukam: dem mächtigen Tiger oder Wenji.
Die Dschunke entfernte sich vom Anlegesteg – es war höchste Zeit. Sie hatten sich kaum zehn Meter vom Ufer entfernt, als Wenji auf den Waldrand zeigte.
»Schaut! Der mächtige Tiger und seine Zwischenmahlzeit!« Tatsächlich erkannten sie, wie ein Tier aus den dicht stehenden Bäumen heraustrat. Trotz seines gewaltigen Brustkorbs und der riesigen Pfoten bewegte es sich geschmeidig und leise vorwärts. Wären nicht die hellen Farben und Streifen seines Fells gewesen, hätte man den Tiger vor dem Hintergrund der Schlingpflanzen nicht einmal erkannt. Aus seinem Maul hing die »Zwischenmahlzeit«, ein so mächtiges Stück Fleisch, dass es über dem Boden schleifte. Die Mähne war rundherum rot gefärbt, doch man konnte nicht sagen, ob von dem Blut der verschlungenen Beute oder vom Schein der untergehenden Sonne. Tam, Nina und Wenji waren vor Verblüffung erstarrt, verfolgten das Schauspiel mit weit aufgerissenen Augen – und waren sich bewusst, etwas Außergewöhnliches zu erleben.
Tam hatte die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt, als Zeichen des Respekts. Als sie wieder aufsah, war das mächtige Tier verschwunden. Plötzlich ertönte über dem Wald ein Knall, gefolgt von einem anderen und noch einem, dann ertönte ein letztes Brüllen.
»Ich weiß nicht, ob dieser Tiger in einem anderen Leben wiedergeboren wird«, sagte Wenji mit einem freundschaftlichen Lächeln in Tams Richtung. »Aber auf jeden Fall wird seine sterbliche Hülle keine kleinen Bauern mehr fressen.«
Unfähig zu antworten, stand Tam da und zitterte am ganzen Körper.
Es verging ein Moment in stummer Andacht. Dann brach Wenji das Schweigen. Mit einer beherzten Geste legte er die Hand auf Ninas Arm. Sie spürte ihr Herz stärker schlagen, doch der junge Mann spielte weiter die Rolle des großen Bruders und betrachtete Ninas schlammbespritzte Kleidung.
»Wie seht ihr überhaupt aus?«, brummte er. »Und was habt ihr hier gewollt?«
Nina wurde plötzlich ärgerlich. Sie schüttelte seine Hand ab und pflanzte sich mit verschränkten Armen vor Wenji auf.
»Und Sie? Was treibt Sie hierher?«
Sie hatte schlagfertig geantwortet und war sicher, ihn damit in Bedrängnis gebracht zu haben. Immerhin, dass er sich in dieser Gegend aufhielt, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Person im weißen Anzug, die sie am Ufer des Lotusteiches gesehen hatte, tatsächlich er gewesen war.
Doch zu Ninas Überraschung schien ihre Frage ihn überhaupt nicht in Verlegenheit zu bringen.
Während die Dschunke auf dem Wasser dahinglitt, ging er zum anderen Ende des Bootes, füllte zwei Gläser mit Kokosmilch und hielt sie seinen Begleiterinnen hin.
»Ich?«, sagte er unschuldig. »Was ich hier tue? Ich habe Sie gesucht.«
Das brachte Nina nun vollends aus der Fassung. Sie ließ sich auf die Kissen fallen und stammelte: »Mich?«
Tam sagte nichts. Sie wollte dem jungen Monsieur Teng nicht das Vergnügen bereiten, sich ebenfalls überrascht zu zeigen.
Und so warteten sie beide auf eine Erklärung, doch Wenji hatte seinen Blick wieder dem gegenüberliegenden Ufer zugewandt und war in die Betrachtung der abendlichen Landschaft versunken. Der Himmel hatte inzwischen eine violette Färbung angenommen, und die Gesichter verschmolzen langsam mit dem Schatten. Man sah, dass der junge Mann
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