Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
fast beruhigend vor, nicht mehr allein zu sein. Auf diese Weise war sie bald nah am Ziel. Ein Fuß spürte Grund, dann der zweite. Sie stieg langsam das Ufer hinauf und verbarg sich hinter einem Busch, um die Ankunft ihres schweigsamen Begleiters zu beobachten. Er war so klein, dass er sehr viel länger brauchte, bis er den Boden unter den Füßen spürte. Schließlich sah sie, wie er sich aufrichtete, langsam stieg seine Gestalt aus dem Wasser und wurde vom Mond im Gegenlicht erleuchtet. Magere Schultern, lange Arme, seltsam gebogene Beine, ein riesiger Schwanz – Moment! Ein Schwanz!
Da, trotz der Dunkelheit, trotz der Kälte, die sie überkam, und trotz ihrer Angst lachte Nina laut auf. Ihr Schwimmgefährte war ein Affe! Nicht nicht etwa ein Gorilla, nein, es war ein einfacher Makake!
»He!«, rief sie ihm zu, »hat es dir gefallen?«
Das kleine Tier fuhr zusammen und drehte sich zu der entsetzlichen Riesin um, die plötzlich vor ihm stand. Nina sah in ein verängstigtes Augenpaar und erkannte, dass seine Lippen zitterten. Sicher war er erschöpft von seiner Heldentat, er saß reglos da und hatte die Hände auf die angezogenen Knie gelegt. Und die ganze Zeit über, die Nina brauchte, um ihre Strümpfe und den Rock auszuwringen und in ihre durchnässten Schuhe zu schlüpfen, blieb er unverändert so sitzen und verfolgte neugierig und interessiert die Handlungen dieses menschlichen Wesens.
»So, auf geht’s zu einer schönen Wanderung in durchnässten Schuhen.«
Zuerst einmal aber musste sie sich orientieren. In der Nähe standen unfertige Häuser im französischen Stil, dahinter lag der Wald. Sie erinnerte sich an die Exkursion vom Nachmittag. Jetzt galt es, die Anlegestelle zu finden, an der sie Wenji getroffen hatten, und dann weiter zur Grabstätte zu gehen.
»Und ich werde nicht einmal den Weg nehmen können, sondern muss am Fluss entlang gehen.«
»Kuirk!«
Nina drehte sich zu ihrem Schwimmgefährten um.
»Leb wohl, mein Freund, bis zum nächsten Mal!«
Der erste Kilometer war einfach. Das Ufer war frei, der Boden eben. Doch hinter dem französischen Viertel wurde die Vegetation unüberschaubar. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in diesem Dickicht den Weg zum Pavillon beim Lotusteich finden sollte.
»Aaaah!«
Nina erstarrte vor Schreck! Etwas Feuchtes und Warmes landete auf ihren Schultern, und im nächsten Moment legten sich zwei kleine Hände um ihren Hals. Als dann aber ein behaartes Lippenpaar ihre Wangen kitzelte, ahnte sie, wer dieser Überraschungsgast sein könnte. Und tatsächlich! Der kleine Makake hatte sich aus einem Baum auf ihre Schultern fallen lassen und schien sich dort recht wohl zu fühlen. Jetzt untersuchte er ihre Haare und war sehr an ihren Locken interessiert.
»Genau, such mich nach Läusen ab, das ist der richtige Zeitpunkt!«, wies sie ihn zurecht, machte aber keine Anstalten, ihn zu verjagen.
»Kuirk!«, wiederholte der Affe, diesmal mit sanfter Stimme in Ninas Ohr.
Es klang fast flehend, als wollte er sagen: »Bitte, kann ich bei dir bleiben?«
»Du bist ja ein zutrauliches Kerlchen. Aber sag mal, habe ich dich nicht neulich abends im Park der Familie Teng gesehen?«
Sie lächelte das Äffchen anerkennend an. Dieser Reisegenosse war ein Geschenk des Himmels, so schien es ihr. Er war genauso nass und verunsichert wie sie. Kameradschaftlich hielt sie ihm einen Finger hin und der Affe ergriff ihn, um ihn zu drücken, als wäre es eine Hand.
»Danke, kleine Mutter«, sagte sie und schaute zum Mond über den Wolken. »Du schickst mir jemanden, der über mich wacht. Oder jemanden, über den ich wachen sollte? Ich weiß es nicht, aber es tut gut, nicht allein zu sein.«
Das änderte jedoch nichts an ihrer Situation. Sie würde nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben können! Sie riskierte wieder einige Schritte im Dickicht, vernahm ein
Frrrr
neben ihren Füßen und wich mit einem Satz zurück. Das Bild des Tigers kam ihr wieder in Erinnerung.
Um es zu verjagen, zwang sie sich, sich an die Schüsse, das folgende Gebrüll des Todeskampfes und Wenjis Schlussfolgerung zu erinnern:
Seine sterbliche Hülle kann keine kleinen Bauern mehr fressen
…
›Aber wie steht es mit jungen Französinnen?‹, dachte Nina.
»Sag mal, kleiner Schwimmer«, fragte sie ihren Begleiter. »Hast du eine Idee, was ich tun soll?«
Der Affe hörte auf, Ninas Schädel zu kratzen, drehte den Kopf in alle Richtungen und sprang, wie er gekommen war, geradewegs in die Dunkelheit.
Nina hatte
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