Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
wandte die Tante sich wieder zum Salon, in dem offensichtlich noch jemand saß.
»Man versteht nicht einmal, was sie sagen! Wo hat mein Schwager denn seine Bediensteten gesucht?«
Das war der Moment, den Wenji wählte, um seinerseits die Villa zu betreten.
»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er Nina.
Doch ehe Nina antworten konnte, meldete ihre Tante sich wieder zu Wort.
»Und? Wo bleibt mein Gepäck? Na? Worauf warten Sie? Soll ich es etwa selber aus dieser eigenartigen Kutsche holen? Wenn hier alle Bediensteten so sind, habe ich ja noch einiges zu erwarten!«
Diesmal war auch Wenji ein wenig aus der Fassung. Verblüfft starrte er die mehrstöckige Erscheinung an, die sich da vor ihm aufgebaut hatte.
»Wenji, ich bitte Sie um Entschuldigung …«, stöhnte Nina den Tränen nahe.
Tam dagegen behielt einen kühlen Kopf und entschied, dass es unbedingt zu vermeiden wäre, dass Wenji auch nur ein weiteres Wort zu hören bekäme. Kurz entschlossen packte sie ihn am Ärmel und zog ihn mit nach draußen.
»Wir sollten hier nicht weiter stören«, sagte sie zu ihm. »Ich werde es Ihnen erklären.«
Nina wusste die Entschlossenheit ihrer Freundin zu schätzen. Andererseits bedeutete dies, dass sie nun auf Gedeih und Verderb allein ihrer Tante ausgesetzt war. Und damit nicht genug! Das Unglück wurde, wie sich im nächsten Moment zeigen sollte, sogar noch verdoppelt – und zwar in Gestalt der Frau von Professor Morton.
Sie war es also, die sich im Salon befand; ein ebenso grauer und unerfreulicher Auftritt wie bei der letzten Begegnung. Nina schluckte und wich einen Schritt zurück.
Die Besucherin dagegen begrüßte sie mit einem falschen Lächeln. »Mademoiselle d’Armand! Was für eine schöne Überraschung, nicht wahr? Ihre liebe Tante hat sich unmittelbar auf die mühsame Reise hierher begeben, nachdem unser Telegramm sie erreicht hatte, in dem wir ihr das traurige Verscheiden ihres Schwagers mitteilten. Unter glücklichen Umständen gelang es ihr, noch am selben Tag ein Schiff nach Saigon nehmen und von dort aus hierher weiterreisen zu können.«
»Sprecht mir nicht davon«, sagte die Tante und zog ein kariertes, zu ihrem Regenschirm passendes Taschentuch aus dem Ärmel, mit dem sie ihr Doppelkinn abtupfte. »Ihr könnt mir glauben, auf dieser Reise bin ich zehn qualvolle Tode gestorben.«
»Ich weiß Ihren Mut zu schätzen, Madame. Und doch haben Sie zweifellos richtig gehandelt. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es unserer
kleinen Nina
ergangen wäre, wenn sie sich allein in Hué hätte durchschlagen müssen.«
Madame Morton hatte das Wort »klein« überdeutlich betont. Nina wich noch einen Schritt zurück, ein eiskalter Schauer durchfuhr ihren Körper. Aber das Schlimmste, dessen war sie sich sicher, stand ihr noch bevor.
»Ich weiß alles!«, bekräftigte ihre Tante und zeigte mit anklagender Geste auf ihre Nichte. Sie wandte sich wieder an Madame Morton und wurde noch deutlicher.
»Wissen Sie, all das wundert mich eigentlich gar nicht. Gott weiß, wem dieses Kind diese abscheulichen Kleider gestohlen hat.«
»Ach, wenn es nur um ein paar Kleider ginge«, fing nun Madame Morton an. »Sich aber ein Erbe aneignen zu wollen, das nach Recht und Gesetz ihrem Vormund zusteht – und damit meine ich Sie, gnädige Frau – ist etwas anderes. Aber seien Sie unbesorgt, wir hätten den Betrugsversuch rechtzeitig bemerkt und alles in Ordnung gebracht.«
Das war mehr, als Nina ertragen konnte. Die Wut stieg in ihr hoch wie Lava in einem Vulkan.
»Ich bin keine Diebin! Und ich verbiete Ihnen …«, brach es aus ihr hervor.
»Wem verbietest du etwas?«, zischte ihre Tante sie an. »Du vergisst, dass ich für dich verantwortlich bin! Du wirst jetzt auf der Stelle in dein Zimmer gehen und unverzüglich diese grauenhafte Verkleidung ausziehen.«
»Sie haben mir keinerlei Befehle zu geben!«, brüllte Nina mit geballten Fäusten.
Sie wusste, dass ihre Antwort absurd war. Ihre Tante war ihr Vormund, so war es nun einmal. Also konnte sie ihr auch Befehle geben, so viele sie wollte. Aber Nina spürte, wie alles in ihr nach einem Aufstand schrie – sie musste rebellieren! Mit dem Gefühl einer tiefen Verbundenheit dachte sie an die Königin Phuong. Ihr Gespräch vom Nachmittag kam ihr in den Sinn, ihr Vertrauen und die Unterhaltung über den zum Scheitern verurteilten Aufstand. In diesem Moment konnte Nina nicht anders. Sie
musste
sich zur Wehr setzen.
»Sie haben keinerlei Recht über mich!«
»Mein
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