Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
auf dem Uferweg etwas auf die Stelle zu, an der sie ins Wasser gestiegen war. Ein Auto! Der Wagen fuhr noch etwas weiter und kam dann zum Stehen. Nina reduzierte ihre Bewegungen auf ein absolutes Minimum und hoffte, dass sie in der Dunkelheit unerkannt bliebe. Jetzt erkannte sie im Inneren des Autos wie einen Schattenriss ein mehrstöckiges Gebilde. Und das Glucksen der Tante hallte in der Stille der Nacht wider, gefolgt von der rauen Stimme Madame Mortons.
»Ich weiß nicht einmal, warum ich mich überhaupt bemühe, sie zu suchen«, sagte die Stimme des Truthahns. »Ich brauche nicht einmal ihre Unterschrift, um das Vermögen meines Schwagers zu verwalten. Ich bin ihr Vormund. Ich kann alles selber verkaufen.« »Sie sollten nicht vorschnell handeln. Verkaufen Sie nichts, ohne sich mit meinem Mann und mir zu beraten.«
Dann wurde es still. Ihre Tante schien sich über die Schroffheit des Befehls zu wundern. Madame Morton schlug einen anderen Ton an.
»Entschuldigen Sie, Madame. Lassen Sie mich erklären. Sie wissen, dass mein Mann Archäologe ist. Unsere Leidenschaft für die Kunst kennt keine Grenzen, und mein Mann hat guten Grund anzunehmen, dass Ihr Schwager …«
Das genügte. Nina wollte kein weiteres Wort hören. Lieber den Wasserschlangen oder dem Tiger zum Opfer fallen als den Mortons, sagte sie sich. Sie wandte sich wieder dem anderen Ufer zu und setzte mit gleichmäßigen Zügen ihre Flucht fort.
Der geheimnisvolle Schwimmer
Nina hatte keine Angst mehr. Sie schwamm im schwarzen Wasser des Flusses der Düfte und konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihren Atem. ›Nicht zu schnell atmen‹, dachte sie, ›nicht an das denken, was da unten ist!‹ Um die Bilder der Schlangen zu vertreiben, dachte sie darüber nach, was in ihrer Tante vorgehen mochte.
›Sie stellt sich vor, dass Papa ein Vermögen besitzt. Natürlich, ich habe mir auf dem Weg hierher auch ausgemalt, dass Papa reich geworden wäre. Aber welche Rolle spielen die Mortons? Sie klären sie nicht über ihren Irrtum auf. Sie suchen die Madonna aus Jade, das ist offensichtlich. Der Professor hat von den Mandarinen erfahren, dass sie verschwunden ist, aber warum spricht er nicht ehrlich darüber? Will er sie für sich behalten?‹
Nachdenken war eine gute Ablenkung. Nina kam langsam, aber sicher mit großen, ruhigen und effektiven Bewegungen vorwärts, ohne sich um die Dunkelheit oder die Tiere zu kümmern. Sie war schon in der Mitte des Flusses …
›Einerseits wissen die Mortons, dass die Madonna aus Jade verschwunden ist und dass sie sehr wertvoll ist. Andererseits hatte Papa sie in seiner Obhut. Als Papa starb, war er mit Professor Morton unterwegs. Stellen wir uns vor, Morton habe begriffen, dass Papa die Figur der Göttin in der Villa Henriette hatte …‹
Nina spürte, wie eine Schwäche ihren Körper übermannte. Eine erschreckende Vorstellung machte sich in ihr breit: ›Mein Vater wurde ermordet! Morton wollte freie Bahn haben, um das Haus zu durchsuchen!‹
In diesem Moment zog ein gedämpftes Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich, eine Art Plätschern. Sie sah sich um. Wenige Meter von ihr entfernt erblickte sie Kräuselungen auf der Wasseroberfläche. Sie kniff die Augen zusammen, um die Dunkelheit besser durchdringen zu können. Inzwischen war der Mond über den Wolken aufgegangen, und sein fahles Licht machte es möglich, zu erkennen, was auf dem Wasser vor sich ging.
Und dann erkannte sie in einiger Entfernung – einen Kopf!
Zuerst konnte sie es nicht fassen, dann aber wurden die Umrisse deutlicher und bestand kein Zweifel mehr. Sie war beim Überqueren des Flusses der Düfte nicht allein. Jemand schwamm zum selben Ufer wie sie. Und scheinbar jemand, der sich ebenso allein glaubte wie sie, denn seine Bewegungen waren genauso ruhig wie ihre, sein Weg verlief parallel, das Geräusch war kaum wahrnehmbar. Nina bemühte sich, ihr Herzklopfen zu kontrollieren. Wenn der geheimnisvolle Schwimmer sie nicht gesehen hatte, könnte sie genauso gut einfach weiterschwimmen. Sicher hatte sein Treiben nichts mit ihr zu tun.
›Da hat wohl jemand die Angewohnheit, nachts im Mondschein ein Bad zu nehmen. Wie romantisch‹, scherzte sie in Gedanken, um sich zu beruhigen. Sie schwamm weiter und beobachtete weiterhin aus dem Augenwinkel ihren unbekannten Gefährten. Er wirkte eigenartig klein, eher ein Kind als ein Erwachsener. Doch was tat ein Kind zu dieser Stunde allein im Fluss?
Nachdem der erste Schreck vorbei war, kam es ihr
Weitere Kostenlose Bücher