Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
mächtigen Tiger überlebt hatte, könnte sie es ebenso gut mit dem Geist eines verstorbenen Kaisers aufnehmen.
Wie ein Echo auf ihre Gedanken vernahm sie ein Geräusch. Das war nicht das Brüllen eines Tieres, vielmehr ein entferntes und ersticktes Stöhnen, das sich aus der Tiefe der Erde erhob. Nina lief ein kalter Schauer über den Rücken. Croquignol hatte es auch gehört und suchte Zuflucht auf ihrer Schulter. Sie erinnerte sich an die Bedienstete, die den Geist von Tu Dûc hatte rufen hören, und ohne es zu wissen, hatte sie denselben Gedanken, den auch die Königin Phuong gehabt hatte: Sie fragte sich, ob der Geist des Kaisers vielleicht wirklich seiner Enkelin vorwarf, die kostbare Figur verkauft zu haben, die er ihr geschenkt hatte.
Da war das Geräusch wieder. Diesmal klang es allerdings deutlich menschlicher.
»Ooh…ii…ee!«
Croquignol legte seine Arme um Ninas Hals. Gemeinsam warteten sie und waren auf der Lauer.
»Ooh…ii…ee!«
Interessanterweise schien der Affe jetzt keine Angst mehr zu verspüren. Im Gegenteil, er sprang auf den Boden und lief auf die andere Seite des Vorplatzes. Nina hatte gelernt, ihm zu vertrauen. Sie nahm allen Mut zusammen und folgte ihm. Im Licht der Morgendämmerung starrten die Drachen Nina mit ihren großen weißen Augen an.
Der Ruf ertönte noch einmal. Jetzt klang es wie ein langgezogenes Wort.
»Oohiife!«
Croquignol schlängelte sich hinter den Tempeln an der dicken Mauer entlang und fand einen Gang, durch den er in einen abgeschlossenen Raum gelangte. In der Mitte stand ein Gemäuer, das aussah, als könnte sich darin ein Sarkophag befinden. Nina betrachtete es von allen Seiten, fand aber keinen Einlass.
Sie war bei ihrer dritten Inspektionsrunde, als die Sonne aufging. Langsam streiften die Sonnenstrahlen über den First der Tempel, und einer von ihnen glitt an der Grabstätte entlang. Da erschien ganz unten an dem Gemäuer, direkt am Boden, im kühlen Licht des frühen Morgens ein kleines Fenster in der Form eines Halbkreises.
Als Nina vor der Öffnung in die Knie ging, war der Ruf ganz nah zu hören.
»Oohh! Hilfe!«
Sie spürte ihr Herz zum Zerspringen klopfen.
Diese Stimme!
Ihre Wangen brannten. Sie führte ihre Hände an den Mund. Sie zitterte. Die Erregung war so stark, dass sie fürchtete, ohnmächtig zu werden.
›Bitte, kleine Mutter, sag, dass es wahr ist!‹, flehte sie tief in ihrem Innern mit zugeschnürter Kehle, als wäre sie in Lebensgefahr.
Der Ruf war ein letztes Mal zu hören.
»Oohh! Hilfe!«
»Papa!«
Stille folgte, dann ertönte aus den Tiefen der Grabstätte die Antwort.
»Nina? Nina? Bist du es?«
»Papa!«, weinte Nina mit zitternden Händen. »Du lebst! Du bist da! Papa!«
Was dann folgte, lief wie in einem Traum ab. Das Kellerfenster war gerade so groß, dass Nina sich mit Mühe hindurchzwängen konnte. Sie hielt sich am Rahmen fest, trat mit den Füßen ins Leere und ließ sich ohne nachzudenken fallen. Zwei Meter weiter unten wurde sie von den Armen ihres Vaters empfangen – beide waren unfähig zu sprechen, sie rangen vor Glück nach Atem.
»Papa!«, gelang es Nina schließlich zu sagen, »sie haben gesagt, du seist tot!«
»Mein kleines Mädchen!«
Nina drückte sich an ihren Vater, der seine Arme noch fester um sie schlang.
»Mein kleines Mädchen!«
In diesem Augenblick war sie sehr froh, dass sie für ihren Vater ein kleines Mädchen war. Sie fühlte sich in der Tat ganz klein und verletzlich – und gleichzeitig so glücklich, es sein zu können.
Nina rückte beiseite, um Paul d’Armand anzuschauen. Sie konnte es nicht fassen, was ihr gerade widerfuhr. Sie betrachtete ihn wieder und wieder und klammerte sich an ihn, als fürchtete sie, dass er sich plötzlich in Rauch auflösen würde. Seit ihrer Trennung vor drei Jahren war er deutlich älter geworden. Seine Wangen waren eingefallen und vom Bart bedeckt, seine ehemals so schwarzen Haare wurden an den Schläfen grau, und um die Augen hatten sich Falten gebildet. Aber alle Zeichen des Alters erfüllten Nina mit Freude, weil sie ihr bestätigten, dass sie nicht träumte: Ihr Vater, den sie für tot gehalten hatte, war wieder da. Und stand vor ihr.
Plötzlich begann sie, durch ihre Tränen hindurch zu lachen.
»Wenn du wüsstest, Papa, was ich alles habe tun müssen, um bis zu dir zu kommen! Ich habe Kleider gestohlen und gelogen, ich habe mich als Dame ausgegeben, ich habe einen ganzen Abend lang geschielt, ich habe gelernt, mich zu verneigen, ich
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