Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
verlassen.«
»Sie werden Annam verlassen?«
Wenjis Lächeln verblasste. Er schaute Tam nicht mehr an, sondern richtete seinen Blick zum Horizont. In Gedanken schien er sehr weit weg zu sein.
»Ja«, antwortete er, »ich werde mein Medizinstudium in Frankreich beenden.«
»Ihr Studium? In Frankreich?«
Tam hatte das überrascht und mit einem Anflug von Schmerz ausgerufen. Wenji wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu.
»Mein Studium, ja. Warum? Hältst du nichts vom Studieren?«
Tam senkte den Blick. Sie hätte ihre Gefühle nicht so klar zum Ausdruck bringen sollen, aber da sie sich schon einmal verraten hatte, konnte sie auch ganz ehrlich sein.
»O nein, ich habe nichts gegen das Studieren.« Sie machte eine Pause und sprach mit beklommenem Herzen weiter: »Sie haben Glück. Ich habe nicht genug Geld, um studieren zu können, aber es ist mein Traum, Chemikerin zu werden.«
»Du?«
Tam konnte die Ironie in dem Ausruf nicht ignorieren. Sie reagierte wie ein verletztes Tier.
»Ja, ich! Mein Mathematiklehrer sagt, dass ich dazu in der Lage sei.«
Wenji schüttelte langsam den Kopf und musterte Tam, als würde er sie zum ersten Mal sehen.
»Das ist für dich ein unerreichbarer Plan, weißt du das?«, fragte er ernst.
»Ja, ich weiß. Ich bin ein Mädchen und ich bin arm.«
»Aber du kannst Krankenschwester oder Sozialarbeiterin werden, es gibt annamitische Krankenschwestern in den Krankenhäusern. Ich könnte dir helfen, eine Stelle zu finden.«
»Ich will keine Krankenschwester werden! Ich will Chemikerin werden, wie Marie Curie!«
Tam hatte fast geschrien, blieb mit verschränkten Armen sitzen und forderte den jungen Mann heraus. ›Er ist wie die anderen‹, dachte sie, ›er versteht mich nicht, nur Paul d’Armand hat mich verstanden.‹
Noch einmal schüttelte Wenji den Kopf und lächelte wieder amüsiert.
»Ihr seid beide gleich, Nina und du. Ihr haltet eure Träume für die Wirklichkeit. Außerdem seid ihr dickköpfig wie Maultiere.«
Tam antwortete nicht, doch empfand sie in dem Moment eine starke Zuneigung zu ihrer abwesenden Freundin.
»Und genau deshalb bin ich zu allem bereit, um sie zu retten.«
»Das bin ich auch«, sagte Wenji, diesmal ohne zu lächeln, mit einem düsteren Schimmer in seinen Augen.
Der Wind stand günstig und die Dschunke kam schnell voran. Sie fuhr den Fluss in Richtung der Gräber hinauf wie eine prächtige Libelle, die vom Wind getragen wird. Im Schein der Morgendämmerung war das Wasser perlmuttfarben und die Landschaft ruhig und frisch. Eine Entenprozession zog, von einem kleinen Jungen geführt, am Ufer entlang. Ein anderes Kind badete zusammen mit seinem Büffel. Bereit für die Arbeit auf dem Reisfeld, stand es auf dem Rücken des großen Tieres. Es war schwer, sich vorzustellen, dass einige Stunden zuvor nicht weit von hier entfernt ein Tiger und seine Beute gestorben waren.
»Trotzdem«, sagte Wenji nachdenklich. »Ich kann es kaum glauben, dass Nina fähig ist, sich mitten in der Nacht allein bis zum Mausoleum von Tu Dûc zu begeben.«
»Dann kennen Sie sie noch nicht gut genug. Sie ist zu allem fähig. Vor allem, wenn es darum geht, dem Waisenhaus zu entkommen.« Tam hatte ihre Behauptung mit Nachdruck ausgesprochen, doch tatsächlich war es eher eine Hoffnung als eine Gewissheit, die sie zum Ausdruck brachte.
›Buddha, Kwan Yin und alle anderen‹, dachte sie, ›beschützt meine Freundin!‹
»Wir werden es bald wissen«, seufzte Wenji. Während er sprach, hatte er sich auf den Kissen ausgestreckt, die Arme unter den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Tam zuckte wortlos mit den Schultern. Es überkam sie die Lust, ihn über Bord zu werfen, diesen eitlen Kerl, mitsamt seiner raffinierten Höflichkeit und seinem eleganten weißen Anzug.
Der Tag war angebrochen, die Dschunke am Ufer festgemacht. Inzwischen wussten sie es: Nina befand sich nicht im Pavillon beim Lotusteich. Tam und Wenji hatten nicht lange gebraucht, um sich überall umzuschauen.
Wenji ging hinaus, um die Umgebung nach ihr abzusuchen, und Tam lief ein letztes Mal durch den Pavillon. Dabei fiel ihr Blick auf den Altar und das Porträt von Kwan Yin.
Die gekritzelte Botschaft lief quer darüber:
TAM, FRAHG DIE JUNGFRAU MARIA.
Es war nicht schwer, zu erraten, wer diese Worte geschrieben hatte: Nur Nina konnte so einen Rechtschreibfehler machen. Aber die Jungfrau Maria? Auf dem Porträt von Kwan Yin?
Ihr Gebet auf der Dschunke kam ihr wieder in Erinnerung: »Buddha, Kwan Yin
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