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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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standen ein paar Frauen und legten den Pilgern mal Brot vor, mal eine Pirogge.
    »Wie kann sie allein auf Pilgerschaft gehen, die Blinde?«, fragte Fandorin.
    »Erstens ist sie nicht blind.« Jewpatjew betrachtete mit Interesse die wandernde Märchenerzählerin. »Sie hat das Gelübde abgelegt, ihre Augen nicht mit dem Anblick der sündigen Welt zu beschmutzen. Es gibt in der Welt der Altgläubigen solch ein Gelübde, das gilt lebenslang. Es ist das schwerste aller denkbaren, dazu entschließtsich kaum jemand. Schauen Sie, diese Gesichtszüge! Wie die Bojarin Morosowa 10 .«
    »Und zweitens?«, fragte Fandorin beeindruckt.
    »Und zweitens hat sie eine Blindenführerin, da, unterm Tisch.« Auf dem Fußboden saß tatsächlich ein schmuddeliges Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren, es warf Fandorin mit braunen Augen kecke Blicke zu. Ihre Füße steckten in Bastschuhen, die Beine waren weit gespreizt. Um den Kopf war ein schmutziges Leinentuch gewickelt. Neben ihr lagen ein großer Bettelsack und ein langer Stecken, der wohl Kirilla gehörte.
    »Polkaschka, sitz still!«, herrschte die Pilgerin das Mädchen an. »Da hast du!« Sie warf eine angebissene Pirogge zu Boden. Das Mädchen hob sie flugs auf, steckte sie in den Mund und verschlang sie, fast ohne zu kauen. Komischer Name, dachte Fandorin. Ob das von Polixena kommt?
    »Warum bekommt das Kind Speisereste zu essen?,« rief Doktor Scheschulin empört. »Was ist das für eine Rückständigkeit?«
    »Das muss so sein«, erklärte Jewpatjew halblaut. »Das Mädchen führt ja die Märchenerzählerin nicht nur, es durchläuft auch eine Prüfung. Die heißt ›Probezeit durch Erniedrigung‹. Die Erzieherin muss sie grob behandeln, schlagen, demütigen, sie hungern lassen. Kirilla ist sogar nachsichtig zu ihr. Haben Sie gesehen, die Pirogge war nur scheinbar angebissen. Schauen Sie, sie hat ihr noch eine zugeworfen, auch so gut wie unberührt.«
    »Interessanter Brauch!«, sagte der Psychiater begeistert und notierte etwas in sein Büchlein.
    Der Gottesnarr leckte die leere Schüssel aus und rülpste gesättigt. Auch Kirilla beendete das Essen, aber manierlich: Sie wischte den Löffel mit Brotkrume ab, warf ihn dem Mädchen zu und verneigte sich zurückhaltend.
    »Ich danke Gott dem Herrn und euch, gute Leute.«
    »Wir danken euch, dass ihr gegessen habt«, erwiderte eine der Frauen, die älter war als die anderen. »Väterchen Lawrenti Iwanowitsch, was tut sich in der Welt? Erzähle.«
    Aus dem ganzen Haus drängten Leute herbei – die Vorstellung sollte wohl beginnen; mit diesem nicht ganz passenden Wort benannte Fandorin im Stillen, was nun folgte.
    Er trat vom Tisch zurück und ließ den Blick durch alle drei Bereiche gleiten. Folklore und Ethnographie waren ja sehr interessant, aber womit die anderen Expeditionsteilnehmer sich gerade beschäftigten, das zu erkunden konnte nicht schaden.
    Kryshow und der Wachtmeister waren nirgends zu sehen. Nun, der Polizist war natürlich im Dienst, er streifte durchs Dorf, schnüffelte herum. Doch wo steckte Kryshow?
    Kochanowski setzte dem Starschina fuchtelnd etwas auseinander. Der verzog das Gesicht, rückte schrittchenweise näher zu dem Gottesnarren, wollte wohl auch der Darbietung lauschen. Aber Kochanowski hielt den Langbärtigen am Ärmel fest.
    Vater Vikenti tuschelte in einer Ecke mit zwei alten Männern. Was mochten sie bereden?
    Diakon Warnawa hatte es sich beim Ofen gemütlich gemacht.
    Bei dem Japaner war Gefahr im Anzug.
    Um ihn drängten sich Weiber und junge Mädchen, die solch ein Wunderwesen noch nie gesehen hatten. Masa blickte unerschütterlich, gewichtig über die geblümten Kopftücher hinweg. Diesen Gesichtsausdruck kannte Fandorin bestens an ihm. In ihrer Situation und bei der Prüderie der Altgläubigen konnten sie jetzt nicht auch noch Komplikationen wegen des weiblichen Geschlechts gebrauchen. Fandorin wollte schon zu seinem Diener, um ihn zurechtzuweisen, doch dessen bedurfte es nicht.
    Eines der Mädchen, die Mutigste, fasste sich ein Herz und fragte: »Von wo kommen Sie, so wie Sie aussehen?«
    Kaum hatte Masa sich ihr zugewandt und die Augen eingekniffen zu dem Ausdruck, den er für unwiderstehlich hielt, als schon einer der Alten angestürmt kam, aufgeplustert, ärgerlich.
    »Psst, dumme Gänse! Weg da! Ein Asiat ist das. Die leben in Turkestan. An Gott den Herrn glauben sie nicht, dafür hat der Erzengel Gabriel sie mit Schlitzaugen bestraft. Wenn ihr um ihn herumscharwenzelt, kriegt ihr auch

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