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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Dann legte er ihm beide Hände auf die Schläfen und beugte sich zu ihm.
    »Sieh mir in die Augen!«
    Der hob gehorsam das Kinn.
    »Ru-hig, ru-hig! Ja, sooo, guuut …« Die Stimme des Arztes wurde schmeichelnd, die Vokale flossen wie Honig vom Löffel. »Gabriel wird dir helfen, auch Michael … Erzengel Anatoli ist schon hier … Alle wirst du retten, allen helfen … Aber nicht schreien, nicht mit dem Kopf stoßen, nein? Nachdenken … Erst nachdenken, dann handeln … Dann wird alles gut …«
    So redete er lange auf den Kranken ein, zehn Minuten wohl.
    Die Hypnose wirkte. Lawrentis Gliederzittern ließ nach, die Hände hingen hilflos herab, die Trübnis verschwand aus den Augen.
    »Lasst, Herr, es reicht«, sagte er schließlich leise und vernünftig. »Hebt mich auf.«
    Von zwei Seiten stellten sie ihn behutsam auf die Füße.
    »Sei bedankt.« Er verneigte sich tief vor Scheschulin und sagte sehr ernsthaft: »Du hast mir geholfen. Du weißt selber nicht, wie sehr. Ich weiß es jetzt.«
    »Was denn?« fragte der Psychiater verwundert.
    Aber der Gottesnarr sagte nichts mehr. Er schüttelte sich wie ein Hund, befreite sich von den ihn haltenden Händen der Bauern und ging, ohne jemanden anzusehen, hinaus. Hinter ihm schlug die Tür zu.
     
    Gott hat es gewollt
     
    Wegen des lahmenden Deichselpferds musste man den Tag und die Nacht im Paradies verbringen. Es gab hier einen im ganzen Umkreis bekannten Rossarzt, der versprochen hatte, das Tier bis zum nächsten Morgen wieder auf die Beine zu bringen. Bis dahin ging jeder seinen Interessen nach.
    Der Geistliche und der Diakon hatten sich einfallen lassen, im Bethaus einen Sonntagsgottesdienst abzuhalten. Dem widersetzte sich keiner, nur erschien aus der christlichen Herde allein der Wachtmeister. Er verharrte während des ganzen Gottesdienstes in der Habtachtstellung, trat dann linksum weg und machte sich auf einen Rundgang von Haus zu Haus, um zu erfragen, ob im Dorf ein selbsternannter Prophet aufgetaucht sei und aufwiegelnde Reden geführt habe.
    Der Vorsitzende der statistischen Kommission instruierte zwei Zählhelfer, denen er Fragebögen und Aktentaschen überreichte, wobei die ersten mit Befürchtungen, die zweiten aber mit Vergnügen entgegengenommen wurden.
    Fandorin streifte ziellos umher, beobachtete, horchte. Den Diener hatte er, um ihn vor Sünden zu bewahren, bei sich behalten. Er wusste, dass die Frauen hier – ob schlank, ob beleibt – genau Masas Ideal von weiblicher Schönheit entsprachen und dass der Teufelskerl es verstand, den Schlüssel zu fast jedem Frauenherzen zu finden.
    Aber der Rundgang durchs Dorf erbrachte nichts Nennenswertes.
    Jewpatjew und Scheschulin saßen beim Starschina und tranken Tee.
    Kryshow unterhielt sich mit den Bauern. Worüber, das blieb Fandorin verborgen, denn kaum näherte er sich, verstummten sie alle. Immerhin verwunderte ihn, dass die Einwohner, die ja sehr argwöhnisch waren, mit dem gottlosen Kryshow so respektvoll sprachen, denn allein schon seinen Namen mussten sie als anstößig empfinden – mit »Krysh« bezeichneten die Altgläubigen das orthodoxe Kreuz.
    Die Frauen waren zumeist im Volkshaus bei Kirilla geblieben. Fandorin ging dort aus Taktgefühl nicht hinein, denn die Damen haben stets Themen zu besprechen, die nicht für Männerohren bestimmt sind.
    Das Mädchen, das die Blinde führte, hatte sich mit den Erwachsenen wohl gelangweilt, jedenfalls war sie nicht bei ihrer Herrin.
    Einmal traf Fandorin sie im leeren Flur des Versammlungshauses an. Dort hing neben der Garderobe ein Spiegel mit bemaltem Holzrahmen. Die arme Schmutzlise, die sich wohl unbeobachtet wähnte, betrachtete ihr Spiegelbild mal von der Seite, mal mit schielenden Augen. Sie tat Fandorin leid, und auch Masa seufzte. Er holte aus der Tasche einen Bonbon (in Wologda hatte er einen Vorrat besorgt) und wollte ihn ihr schenken, doch das Mädchen rannte wie ein wildes Tierchen davon.
    Dann sahen sie sie noch einmal – am Dorfrand mit einer Schar Kinder, denen sie etwas erzählte; die Kinder lauschten gespannt, mit aufgesperrten Mündern. Ein Mädchen gab der Erzählerin einen Pfefferkuchen, den sie nicht zurückwies, sondern gleich in den Mund steckte. Sie verdient sich was dazu, nimmt sich ein Beispiel an Kirilla, dachte Fandorin schmunzelnd.
    Der Gottesnarr war nirgends zu sehen.
     
    Sie übernachteten im Volkshaus, das im Bedarfsfalle auch als Hotel genutzt wurde.
    Die bunte Gesellschaft, ohne sich abgesprochen zu haben, verteilte

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