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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Gottesmann schien der Neid des Schauspielers nicht fremd zu sein.
    Das Lied strömte geruhsam weiter dahin:
     
    »Endlich schloss der grauen Taube Rede,
    Und nun hub die schwarze Taube an,
    Voller Kummer war, was sie da sagte,
    Ihre Stimme klang, als ob sie weinte:
    ›Gehe nicht zum Dorfrand zu den Burschen,
    Hüll dich in ein Tuch gleich einer Nonne,
    Folge mir dann in den tiefen Wald.
    Gehst durch hohe Berge, durch die Wüste,
    Wenn du Hunger hast, iss bitt’re Kräuter,
    Stille deinen Durst mit salzgen Tränen,
    Deckst dich zu mit eiseskaltem Schneesturm,
    Drehst im Tanz dich mit dem Wind im Reigen …‹«
     
    Es folgte eine Beschreibung der Unbilden, die das Mädchen erwarteten, wenn sie den Dienst an Gott als Nonne wählte. Die Zuhörer lauschten gespannt, ließen sich kein Wort entgehen. Aber der bedauernswerte Starschina fand keine Ruhe – kaum hatte der Statistiker von ihm abgelassen, da machte sich Vater Vikenti an ihn heran und flüsterte auf ihn ein.
    »So wie üblich«, sagte der Langbärtige ungeduldig und ziemlich laut.
    Man drehte sich missmutig nach ihm um.
    Die Heldin des Liedes hatte unterdes das Spinnrad verlassen undging die Eltern um Rat fragen. Sie verneigte sich tief, brach in Tränen aus, bat, sie zu lehren, auf wen sie hören und wem sie folgen solle – der grauen Taube oder der schwarzen. Der Vater antwortete ihr:
     
    »Wir haben dich gebor’n und aufgezogen,
    Doch deine Seele, die gehört uns nicht,
    Denn ihr Erzeuger ist Herr Zebaoth.
    Was er zu tun dich heißt, musst du befolgen.
    Nur für den Leib zu leben, das ist süß,
    Und angenehm, jedoch es währt nur kurz.
    Die Blume bald verblüht, bald verdorret,
    Ihre Schönheit wird so schnell zu Staub.
    Allein der Seele Schönheit währet ewig,
    Die Zeit, das Leid, sie haben ihr nichts an.
    Wer abtötet sein Fleisch, wird’s nicht bereuen,
    Denn seiner ist das Reich der Ewigkeit.«
     
    Die Mutter hat natürlich andere Argumente, denn die Tochter tut ihr leid, auch wünscht sie sich Enkel. Das Lied wollte kein Ende nehmen, doch erstaunlich, das Publikum konnte nicht genug davon kriegen.
    Jewpatjew beugte sich zu Fandorin und raunte: »Das ist ja ein Gleichnis von der Freiheit der Wahl, nicht mehr und nicht weniger. Wie bei Kant und Schelling. Unsere Religion ist die freieste von allen, mit solch einer können keine Sklaven aufwachsen.«
    Fandorin war selber neugierig, welcher Taube die Heldin folgen werde, allein, das blieb Geheimnis. Bei der Strophe: »Und da sagte ihnen das schöne Mädchen, welches nun ihr fester Wille sei«, brach das Lied plötzlich ab.
    Es ertönte ein gellendes Geheul, so herzzerreißend, so schrecklich, dass die Frauen, noch ohne zu wissen, was passiert war, loskreischten und die Kinder in Geschrei ausbrachen. Erst im nächsten Moment sahen alle, dass der Gottesnarr Lawrenti einen Anfall hatte.
    »Ich bin verloooren! O Gott, verlooren!«, heulte der Gottesnarr. »Aah, ich kann nicht mehr!«
    Er stieß die zu ihm eilenden Bauern beiseite, und das mit solcher Kraft, dass zwei oder drei zu Boden stürzten, nahm Anlauf und rammte den Kopf gegen die Ofenkante.
    Er fiel hin, von der aufgeschlagenen Stirn floss Blut, doch verlor er nicht die Besinnung.
    »Schwach bin ich! Sündig!«, winselte der Gottesnarr kläglich. »Ich kann deine Menschen nicht retten! Belehre mich, Herr! Helft mir, ihr Erzengel Gabriel und Michael! Weh mir Nutzlosem!«
    Niemand traute sich an ihn heran.
    Der Unglückliche saß auf dem Fußboden, schlug immer wieder mit dem blutigen Kopf gegen den Ofen, rote Spritzer flogen nach allen Seiten.
    Alle waren verwirrt, nur Scheschulin nicht. Wozu es verhehlen, als Fandorin den hochgelehrten Arzt unlängst über die »biologische Maschine« dozieren hörte, hatte er befunden, dass der nicht ganz ernst zu nehmen sei, doch jetzt sah er sich genötigt, seine Meinung zu ändern.
    Scheschulin handelte schnell und sicher.
    Er trat vor, herrschte die Weiber an: »Aufhören zu kreischen! Er bemüht sich ja für euch!«
    Den Männern befahl er: »Wasser! Kaltes!«
    Dann packte er Lawrenti bei den Schultern, drehte ihn zu sich herum und versetzte ihm – klatsch, klatsch! – zwei schwere Maulschellen.
    Ein tiefer Seufzer ging durch den Raum, dann war es still.
    Auch der Gottesnarr verstummte und glotzte den entschlossenen Herrn mit Brille groß an.
    Man brachte Scheschulin einen Eisenkessel mit Wasser, und der goss es dem heiligen Mann über den Kopf. Rasch verband er dieStirnwunde mit einem Taschentuch.

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