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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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»Winterraum«, und im oberen Stockwerk lagen die Sommerzimmer.
    »He, du!«, rief Kryshow einer Frau zu, die mit einem fauchenden Samowar in den Händen dahintrippelte. »Was ist bei euch los, alles in Ordnung?«
    »Gott sei Dank«, antwortete sie in singendem Tonfall, blieb stehen und begaffte neugierig die Ankömmlinge, sperrte sogar den Mund auf.
    »Warum ist dann kein Mensch zu sehen?«
    »Ist doch Sonntag«, sagte die Paradiesbewohnerin verwundert. »Sind alle im Volkshaus, wo sonst?«
    »Ach richtig, wir haben ja Sonntag. Dann ist das klar.«
    Kryshow überholte die Frau mit dem Samowar und lenkte den Schlitten zu einem langgestreckten Blockhaus mitten im Dorf.
    »Was ist das, Volkshaus? Zum Beten?«, fragte Fandorin beruhigt.
    »Nein, es ist das Versammlungshaus. Jedes nur halbwegs anständige Dorf hat eines. Im Winter, wenn wenig zu tun ist, trifft man sich dort abends, trinkt Tee, plaudert, liest Bücher. Die Weiber machen Handarbeiten. Von so was träumen die Volkstümler. Die Bücher sind freilich nicht von Marx oder Bakunin, sondern Heiligenleben und Volkssagen. Na, und die Gusljaken, für die Arbeit am Sonntag Sünde ist, finden sich hier schon am Morgen ein, umden Müßiggang zu genießen. Es trifft sich gut, dass alle beisammen sind. Da können wir mit ihnen reden.«
     
    Das Innere des »Volkshauses« erinnerte an eine große, langgestreckte Scheune, war aber sehr sauber und reich geschmückt. In der Mitte befand sich ein riesengroßer blanker, weiß-blau gekachelter Ofen. Längs der Wände standen lange Bänke mit bestickten Kissen. Fandorin fiel auf, dass der Raum in drei Zonen geteilt war: In der Heiligenecke (auch
obere Stube
genannt) stand ein städtisches Sofa, auf dem in feierlicher Einsamkeit der oberste Gusljake saß, der langbärtige
Starschina
. In seiner Nähe, an einem farbig gestrichenen Tisch, saßen auf Wiener Stühlen andere alte Männer und tranken Tee; die jüngeren Männer hielten sich in der mittleren Stube auf – plauderten, spielten Dame oder bastelten; die Frauen und Mädchen saßen
unten
an Spinnrad und Nähmaschine oder knackten Nüsse; Kinder beiderlei Geschlechts liefen und krochen überall herum und scherten sich nicht, wessen Territorium das war. Insgesamt waren hier an die sechzig bis siebzig Menschen versammelt, also das ganze Dorf.
    Das eintretende Grüppchen der Fremdlinge wurde zunächst argwöhnisch beäugt, doch Jewpatjew war hier seit langem bekannt und genoss Ansehen. Der Starschina beeilte sich, ihn willkommnen zu heißen, sogar mit Kuss. Auch die übrigen Alten traten herzu. Fandorin fiel auf, dass die Männer Kryshow mit Handschlag begrüßten.
    »Na, ihr geretteten Seelen, lebt ihr gut mit Gott?« sprach Jewpatjew die Alten an.
    »Dank deiner Hilfe, Nikifor Andronowitsch. Die Kornschwinge, die du geschickt hast, ist gut. Ob wir noch eine solche bekommen könnten?«, fragte der Starschina mit einschmeichelndem Lächeln.
    »Wenn du uns zu Hilfskräften für die Zählung verhilfst, bekommst du noch eine. Was gibt’s Neues bei euch, alte Leutchen? Was treibt ihr so?«
    »Durchreisende Pilger sind zu Besuch.« Der Starschina zeigtezur hintersten Ecke, zu einem Brettertisch. »Jetzt essen sie, nachher werden sie Lieder singen. Ihr könnt auch zuhören.«
    Fandorin sah hin und wollte seinen Augen nicht trauen. An der Stirnseite des Tisches saß, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, der Gottesnarr aus Denisjewo und warf aus einer Schüssel blitzschnell Grützbrei in den Mund.
    »Lawrenti!«, ächzte der Wachtmeister. »Wie kommt der so schnell hierher? Ganz allein etwa, durch den Wald? Und die Wölfe machen ihm nichts aus!«
    »Lawrenti ist ein frommer Mann!« sagte ein Alter streng. »Den Gottesnarren behütet der Herr. Und schon vor Tagesanbruch ist Mutter Kirilla gekommen.«
    »Mutter K-Kirilla?« fragte Fandorin verdutzt.
    Der Alte wandte sich ab, und Jewpatjew erklärte: »Kirilla ist ein alter russischer Name. Ich habe von der Frau gehört. Sie ist Meisterin im Märchenerzählen und Liedersingen. Kommen Sie, wir schauen mal.«
    Am anderen Ende des Tisches saß kerzengerade eine Frau in schwarzem Kleid und schwarzer Kutte mit weiten Ärmeln. Ihr blasses Gesicht war zweigeteilt von einer schwarzen Augenbinde; es sah nicht jung aus und nicht alt, die Frau mochte vierzig, vielleicht auch sechzig sein. Sie aß ebenfalls Grützbrei, aber nicht so hastig wie der Gottesnarr, sondern sehr langsam, fast widerwillig. Sonst saß niemand am Tisch, nur drum herum

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