Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
grundverschieden in ihrem Temperament und ihrer Gemütsart waren. Anjuta glich Puschkins Tatjana: elegisch, melancholisch, ein wenig grüblerisch und, frei heraus gesagt, langweilig. Dafür sprühte Polinka vor Übermut und Frohsinn, ›unschuldig wie des Dichters Freuden und wie ein Kuss, den Liebe bot‹. Und das Altjüngferliche war bei ihr weniger ausgeprägt als bei ihrer Schwester.
Renard lebte sich etwas ein, verschaffte sich einen Eindruck und gab selbstverständlich Polinka den Vorzug. Ich beobachtete das alles als Außenstehender und amüsierte mich köstlich, ohne zuahnen, was für ein unwahrscheinliches Ende dieses Pastorale nehmen sollte. Die verliebte Polinka, der vom Geruch der Millionen benebelte Franzose, die vor Eifersucht glühende Anjuta, die wider Willen die Rolle der Anstandsdame spielen musste – ich muss gestehen, dass mich die Komödie nicht weniger fesselte als die Birkhuhnbalz. Der aristokratische Vater wusste von all dem nichts, denn in seinem Hochmut wäre er nicht im Traum darauf verfallen, dass seine Tochter, eine Karakina, sich in einen kleinen Architekten verlieben könnte.
Naturgemäß endete es mit einem Skandal. Eines Abends blickte Anjuta zufällig (oder auch nicht zufällig) in die Gartenlaube, ertappte dort ihre Schwester und Renard in flagranti delicto und petzte es unverzüglich dem Papa. Der furchtgebietende Fürst, der wie durch ein Wunder keinen Schlaganfall erlitt, wollte den Missetäter auf der Stelle davonjagen. Der Franzose bettelte, wenigstens bis zum Morgen auf dem Gut bleiben zu dürfen – in den Wäldern um Sosnowka kann es durchaus geschehen, dass ein einzelner Mann zu nächtlicher Stunde von den Wölfen gefressen wird. Hätte ich mich nicht eingemischt, so wäre der Verführer nur im Gehrock vor das Tor gesetzt worden.
Die heulende Polinka wurde ins Schlafzimmer geschickt, unter Aufsicht ihrer vernünftigen Schwester, der Architekt zog sich in seinen Seitenflügel zurück, um die Koffer zu packen, die Dienerschaft verkroch sich, und so ging die ganze Wucht des fürstlichen Zorns auf meine Wenigkeit nieder. Karakin tobte fast bis Tagesanbruch, ich war völlig zermürbt und fand in dieser Nacht nur wenig Schlaf. Als ich am Morgen aus dem Fenster schaute, sah ich, wie der Franzose in einem einfachen Leiterwagen zur Bahnstation gefahren wurde. Der Ärmste drehte sich immer wieder nach den Fenstern um. Doch niemand scheint ihm zum Abschied gewunken zu haben – der junge Mann sah sehr verzagt aus.
Im Weiteren geschahen Wunder. Die Mädchen erschienen nichtzum Frühstück. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war verschlossen, auf Klopfen reagierten sie nicht. Der Fürst schäumte wieder vor Wut und zeigte Anzeichen einer unvermeidlichen Apoplexie; er befahl, die verdammte Tür aufzubrechen. Man brach sie auf und ging hinein. Jesus Christus! Anjuta lag im Bett, wie in tiefem Schlaf, von Polina fehlte jede Spur. Sie war weder im Haus noch im Park, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Man versuchte auf jegliche Art, Anjuta zu wecken, vergeblich. Der Leibarzt, der ständig auf dem Gut gewohnt hatte, war kurz zuvor gestorben und ein neuer noch nicht in Dienst genommen. Es blieb nichts weiter übrig, als jemanden ins Kreiskrankenhaus zu schicken. Der Amtsarzt kam, einer von den Langhaarigen. Er tastete und knetete und sagte: ›Ein schweres Nervenfieber, sie wird nach einer Weile von selbst aufwachen.‹
Der Kutscher, der den Franzosen weggeschafft hatte, kam zurück. Ein verlässlicher Mann, der sein ganzes Leben auf dem Gut verbracht hatte. Er schwor bei Gott, daß er Renard zur Station gefahren und in den Zug gesetzt habe. Das gnädige Fräulein sei nicht bei ihm gewesen. Und wie hätte sie auch das Anwesen verlassen können? Der Park war von einer hohen Mauer umgeben, und am Tor standen Wachposten.
Am nächsten Tag erwachte Anjuta, doch was nutzte es? Sie hatte die Gabe der Rede eingebüsst, weinte nur, zitterte am ganzen Leib, klapperte mit den Zähnen. Nach einer Woche erlangte sie die Sprache wieder, aber an die bewusste Nacht konnte sie sich nicht erinnern. Wenn sie mit Fragen bedrängt wurde, bekam sie sofort Schüttelfrost. Der Arzt untersagte aufs strengste jede Befragung. Er sagte, es bestehe Lebensgefahr.
Polinka blieb verschwunden. Der Fürst verlor vollends den Verstand. Er schrieb an den Gouverneur, sogar an den Zaren, brachte die Polizei auf Trab. Renard wurde in Moskau beschattet, doch ohne Erfolg. Der Franzose bemühte sich, Auftraggeber zu finden
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