Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
verlegen, doch die Gastgeberin unterließ es, ihn zu rügen – er sah so entzückend aus mit den plötzlich erglühenden Wangen.
»Ich wage mir gar nicht auszumalen, was in der Seele eines jungenM-Mädchens vorgeht, das sich in solch einer Lage befindet«, sagte Fandorin nach einer Pause. »Und hier kommt noch eine Besonderheit hinzu: Beide hatten ständig einen lebendigen Spiegel vor Augen, die Zwillingsschwester. Es konnte nicht ausbleiben, dass ein bizarres Gemisch von Liebe und Hass entstand. Und da tritt ein gutaussehender junger Mann auf den Plan. Er bekundet Interesse für die jungen Damen, wohl nicht uneigennützig, aber welches Mädchen denkt schon darüber nach? Zwischen den Schwestern entbrennt zwangsläufig Rivalität, aber die W-Wahl ist schnell getroffen. Bis zu diesem Moment hatten Anjuta und Polinka das gleiche Los, doch von nun an lebten sie in grundverschiedenen Welten. Die eine war glücklich, zum Leben erweckt und wurde – zumindest dem Anschein nach – geliebt. Die andere fühlte sich zurückgewiesen, einsam und darum doppelt unglücklich. Glückliche Liebe ist egoistisch. Für Polinka existierte wahrscheinlich nichts mehr außer der in langen Jahren aufgestauten Leidenschaft. Das war das richtige, volle Leben, von dem sie so lange geträumt und auf das sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Und dann war von einem Augenblick zum andern alles vorbei, und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, als die Liebe ihren höchsten Gipfel erreichte.«
Die Damen lauschten der Rede des bildschönen Mannes wie verzaubert, Molly Sapegina presste die schmalen Finger ans Décolleté und erstarrte in dieser Haltung.
»Und das Schlimmste – schuld an der T-Tragödie war die leibliche Schwester. Die man zugegebenermaßen auch verstehen kann: Im eigenen Unglück ein solches Glück neben sich zu ertragen, das erfordert eine besondere Seelenstruktur, die Anjuta offenbar nicht besaß. Also, Polinka, die eben noch in paradiesischen Gefilden schwelgte, wurde in den Abgrund gestoßen. Kein wildes Tier auf der Welt ist so gefährlich wie eine Frau, der man die Liebe genommen hat!«, rief Fandorin emphatisch und geriet wieder in Verlegenheit, denn er fürchtete, mit dieser Sentenz die schöneHälfte der Anwesenden gekränkt zu haben. Doch Prostest wurde nicht laut – alle warteten begierig auf die Fortsetzung, und Fandorin sprach in beschleunigtem Tempo weiter: »Da fasste Polinka in ihrer Verzweiflung einen Plan, der wahnwitzig und ungeheuerlich ist, aber von der gewaltigen Kraft des Gefühls zeugt. Übrigens ist nicht auszuschließen, dass die Idee von Renard stammt. Verwirklichen musste sie jedoch das Mädchen … In der Nacht, als Sie, Archip Hyazintowitsch, bei den Tiraden des Hausherrn einnickten, wurde das Schlafzimmer der Mädchen zur Hölle. Polinka brachte ihre Schwester zu Tode. Ich weiß nicht, wie – ob sie Anjuta erwürgte oder vergiftete, jedenfalls floss kein Blut, sonst wären im Schlafzimmer Spuren zurückgeblieben.«
»Die Polizei hat auch die Möglichkeit eines Mordes erwogen«, sagte Mustafin mit unverhohlener Skepsis. »Aber da ergab sich die vernünftige Frage: Wo ist die Leiche?«
Der Beamte für Sonderaufträge antwortete ohne das geringste Zögern: »Das ist ja eben das G-Grauenvolle. Polinka hat die Schwester getötet, hat dann die Leiche ins Badezimmer geschleift, sie dort zerstückelt und das Blut ins Abflussrohr laufen lassen. Der Franzose kommt dafür nicht in Betracht, denn er hätte sich nicht für so lange Zeit unbemerkt aus seinem Seitenflügel entfernen können.«
Fandorin ließ geduldig einen Sturm entrüsteter Ausrufe über sich ergehen, in dem am häufigsten das Wort »unmöglich!« erklang, und sagte dann traurig: »Unmöglich ist leider jede andere Lösung. Besser, man versucht sich gar nicht erst vorzustellen, was in jener Nacht im Badezimmer geschah. Polinka besaß mit Sicherheit keine anatomischen Kenntnisse, und als Werkzeug dürfte sie ein aus der Küche entwendetes Messer benutzt haben.«
»Aber sie konnte doch nicht die Körperteile und die Knochen hinunterspülen, das würde ja das Abflussrohr verstopft haben!«, rief Mustafin mit einer ihm fremden Hitzigkeit.
»Nein, das konnte sie nicht. Die zerstückelten K-Körperteilewarf sie, verpackt in die Koffer und Hutschachteln des Franzosen, aus dem Fenster. Sagen Sie, wie hoch lagen die Fenster des Schlafzimmers über dem Erdboden?«
Mustafin kniff nachdenklich die Augen ein und erinnerte sich: »Na, vielleicht mannshoch.
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