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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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eines vorzüglichen Erzählers stand, war es auch kein Malheur, aus seinem Munde eine bereits bekannte Geschichte zu hören. Im rechten Moment fragte Molly Sapegina, eine bezaubernde junge Frau, deren Mann leider vor Jahresfrist in Turkestan gefallen war, voller Neugier: »Mysteriöses Verschwinden? Wie interessant!«
    Die Gastgeberin gab sich den Anschein, es sich auf ihrem Stuhl bequem zu machen, womit sie Mustafin bedeutete, dass sie das Ruder des Table talks in seine erprobten Hände legte.
    »Viele von uns kennen natürlich noch den alten Fürsten Lew Lwowitsch Karakin«, begann Mustafin seine Erzählung. »Er war ein Mann der alten Zeit, ein Held des Ungarnfeldzugs. Die liberalen Tendenzen des vorigen Zaren lehnte er ab; er reichte seinen Abschied ein und lebte fortan auf seinem Anwesen Sosnowka bei Moskau wie ein indischer Nabob. Sein Reichtum war unermesslich, derartige Vermögen besitzt die Aristokratie heutzutage nicht mehr.
    Der Fürst hatte zwei Töchter, Polinka und Anjuta. Beachten Sie: Nicht Poline oder Annie – der Graf vertrat die strengsten patriotischen Ansichten. Die Mädchen waren Zwillinge. Gesicht, Figur und Stimme waren vollkommen identisch. Dennoch konnte mansie nicht verwechseln, denn Anjuta hatte auf der rechten Wange, hier, ein Muttermal. Die Gattin des Fürsten war im Kindbett gestorben, und er hatte nicht wieder geheiratet. Er pflegte zu sagen, das sei zu aufwendig, und wozu auch, schließlich gebe es unter dem Gesinde genug junge Frauen. An denen mangelte es ihm wirklich nicht, auch nicht nach Aufhebung der Leibeigenschaft. Ich sage ja, der Fürst lebte wie ein Nabob.«
    »Sie sollten sich schämen, Archip. Geht es nicht ohne Frivolitäten?«, sagte die Gastgeberin mit vorwurfsvollem Lächeln, obwohl sie sehr wohl wusste, daß eine gute Geschichte nur gewinnt, wenn sie, wie die Engländer sagen, etwas gesalzen wird.
    Mustafin drückte reuevoll die Hand an die Brust und setzte seine Erzählung fort: »Polinka und Anjuta waren keineswegs hässlich, aber auch keine Schönheiten. Bekanntlich ist jedoch eine millionenschwere Mitgift das beste aller kosmetischen Mittel, darum lösten die beiden Mädchen in der einzigen Ballsaison, die sie besuchen durften, unter den Moskauer Heiratsanwärtern eine Art Fieberepidemie aus. Doch dann nahm der alte Fürst unserem verehrten Generalgouverneur etwas übel, fuhr zurück auf sein Gut Sosnowka und rührte sich von dort nicht mehr weg.
    Fürst Karakin war fettleibig, kurzatmig und hochrot im Gesicht, kurzum, ein apoplektischer Typ, und es blieb zu hoffen, dass die Gefangenschaft seiner Töchter bald beendet sein würde. Doch die Jahre gingen dahin, der Fürst wurde immer dicker und schnaufte immer lauter, machte aber keine Anstalten zu sterben. Die Heiratsanwärter warteten und warteten, bis sie die armen eingekerkerten Mädchen vergaßen.
    Man sagt zwar: Sosnowka bei Moskau, doch es liegt in den tiefen Wäldern des Kreises Saraisk, wo keine Eisenbahn hinführt, und selbst bis zur nächsten Landstraße sind es mindestens zwanzig Werst. Kurzum, eine Einöde. Aber eine paradiesische Gegend. Ich besitze in der Nachbarschaft ein kleines Dorf und habe darum denFürsten ziemlich oft besucht. Es war eine Lust, in Sosnowka auf Birkhuhnjagd zu gehen. Und in jenem Frühling lief einem das Wild von selbst vor die Flinte – eine solche Balz hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Ich hielt mich damals längere Zeit bei dem Fürsten auf, so dass sich die ganze Geschichte vor meinen Augen abspielte.
    Karakin trug sich seit langem mit der Idee, in seinem Park ein Belvedere im Wiener Stil zu errichten. Zuerst lud er einen berühmten Architekten aus Moskau ein, der eine Zeichnung machte und auch mit dem Bau begann, ihn aber nicht zu Ende führte – er hielt die Selbstherrlichkeit des Fürsten nicht aus und reiste ab. Mit den restlichen Arbeiten wurde ein minder guter Architekt betraut, ein Franzose namens Renard. Er war jung und sah nicht übel aus. Freilich hinkte er recht auffällig, aber seit Lord Byron galt das bei unseren Damen nicht als Makel.
    Das Weitere können Sie sich denken. Die beiden Mädchen sitzen schon zehn Jahre tagein, tagaus auf ihrem Anwesen. Beide sind achtundzwanzig, und sie haben keinerlei Gesellschaft, höchstens dass ein alter Trottel wie ich zur Jagd vorbeikommt. Und auf einmal erscheint ein schöner junger Mann, lebhaften Verstandes, gebürtiger Pariser.
    Ich muss dazu sagen, dass die Zwillinge bei all ihrer äußeren Ähnlichkeit

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