Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
wegnehmen, und fertig! In diesem Herrn ist kein Tropfen Ritterlichkeit.«
»Ich stamme ja auch von einem tatarischen Fürsten ab«, bestätigte Mustafin fröhlich. »Bei uns in der ›Goldenen Horde‹ wurde mit Frauen nicht lange gefackelt.«
Für Fandorin hingegen schien Ritterlichkeit kein leeres Wort zu sein. Der junge Mann rieb sich die Nasenwurzel und murmelte: »Höchstens dass … Sagen Sie, Herr M-Mustafin, wissen Sie noch, was für Gepäck der Franzose bei sich hatte? Sie haben doch gesehen, wie er abgefahren ist. Bestimmt war eine große Truhe dabei?«
Mustafin applaudierte lautlos. »Bravo, er hat das Mädchen in der Truhe versteckt und so hinausgeschmuggelt? Und zuvor hat Polinka ihrer tugendsamen Schwester irgendein scheußliches Gebräu eingeflößt, daher das Nervenfieber, nicht wahr? Sehr schlau. Aber ich muss bedauern. Da war keine Truhe. Ich erinnere mich nur an kleine Koffer und Bündel, ein paar Hutschachteln. Nein, mein Herr, Ihre Version taugt nicht.«
Fandorin dachte nach und fragte: »Sind Sie ganz sicher, dass dasMädchen nicht mit den Wachposten übereingekommen ist oder sie einfach bestochen hat?«
»Völlig sicher. Das hat die Polizei als Erstes geprüft.«
Bei diesen Worten verfinsterte sich der Kollegienassessor und sagte: »Dann ist Ihre Geschichte noch übler, als ich dachte.« Und nach einer kurzen Pause fragte er: »Sagen Sie, gab es im Haus des Fürsten eine Wasserleitung?«
»Eine Wasserleitung? Auf dem Lande?«, fragte Molly Sapegina verwundert und kicherte, denn sie dachte, der schöne Beamte mache einen Scherz. Mustafin jedoch klemmte sich das goldene Monokel vors Auge und sah Fandorin so aufmerksam an, als nehme er ihn erst jetzt richtig wahr.
»Wie sind Sie darauf gekommen? Stellen Sie sich vor, eine Wasserleitung gab es tatsächlich. Ein Jahr vor den geschilderten Ereignissen hatte Karakin ein Pumpwerk und ein Kesselhaus bauen lassen. Er und seine Töchter hatten Badezimmer, und auch die Gästezimmer waren so ausgestattet. Aber was hat das mit unserer Geschichte zu tun?«
»Ich denke, dass Ihr R-Rätsel gelöst ist«, sagte Fandorin. »Aber die Lösung ist sehr unangenehm.«
»Inwiefern? Weshalb? Was ist denn nun passiert?«, erklang es von allen Seiten.
»Ich werde es gleich erzählen. Aber zuvor, Lidia Nikolajewna, würde ich Ihrem Lakaien gern einen Auftrag erteilen.«
Der Kollegienassessor, der die Anwesenden in höchste Spannung versetzt hatte, schrieb etwas auf einen Zettel und gab diesen dem Lakaien, wobei er ihm leise etwas ins Ohr sagte. Die Kaminuhr schlug Mitternacht, aber niemand dachte an Aufbruch. Alle sahen Fandorin erwartungsvoll an, doch der hatte es nicht eilig, seine analytischen Gaben vorzuführen. Frau Odinzowa, stolz auf ihr untrügliches Gespür, das sie auch dieses Mal bei der Wahl des wichtigsten Gastes sicher geleitet hatte, betrachtete den jungen Mannmit nahezu mütterlicher Rührung – der Beamte für Sonderaufträge hatte alle Chancen, ein Stern ihres Salons zu werden. Kati Polozkaja und Lili Jepantschina würden vor Neid platzen.
»Die Geschichte, die Sie uns erzählt haben, ist weniger g-geheimnisvoll als vielmehr abscheulich«, erklärte der Kollegienassessor und verzog das Gesicht. »Eines der ungeheuerlichsten Verbrechen aus Leidenschaft, das mir je untergekommen ist. Kein Verschwinden, sondern Mord, noch dazu ein ganz schändlicher, nach Art des Kain.«
»Wollen Sie sagen, dass die traurige Schwester die fröhliche umgebracht hat?«, präzisierte Sergej von Taube, der Vorsitzende des Akziseamtes.
»Nein, ich will das G-Gegenteil sagen: Die fröhliche Polinka hat die traurige Anjuta getötet. Und das ist noch nicht das Grauenvollste.«
»Aber erlauben Sie! Wie ist das möglich?«, rief Sergej von Taube verblüfft, und Frau Odinzowa hielt es für nötig zu bemerken: »Was kann grauenvoller sein als die Ermordung der eigenen Schwester?«
Fandorin erhob sich und ging im Salon auf und ab.
»Ich werde versuchen, die Abfolge der Ereignisse so zu reproduzieren, wie sie sich mir darstellen. Also, zwei sich langweilende F-Fräulein. Das verrinnende, schon beinahe verronnene Leben – ich meine das Leben als Frau. Müßiggang. Gärende seelische Kräfte. Unerfüllte Hoffnungen. Angespannte Beziehungen zu dem tyrannischen Vater. Schließlich physiologische Frustration – immerhin sind es gesunde, junge Frauen. Ach, ich bitte um Verzeihung …«
Der Kollegienassessor begriff, dass er etwas Unschickliches gesagt hatte und verstummte
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