Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
und Gewalt zu entfliehen. Wenn sie es irgendwie zurück
in ihr Dorf schaffen könnte, würden ihre Eltern sie
vielleicht wieder aufnehmen, auch wenn sie immer noch Yingxiongs
Gemahlin war. Sie konnte erklären, dass sie geflohen war, um ihr
Leben und das ihrer Tochter zu retten.
»Könntest
du vielleicht nachsehen, ob man tatsächlich aus der Stadt
herauskommt? Mein Verschwinden würde zu schnell auffallen«,
wandte sie sich nach kurzem Überlegen an ihre Dienerin. Sie
erinnerte sich, wo der Schmuck lag, den sie einst von ihrer Mutter
erhalten hatte. Die Silberketten konnten ihr ermöglichen, eine
Weile zu überleben und sich wieder zu ihrer Familie
durchzuschlagen.
Laoshu
nickte zögernd.
»Gut,
ich werde gehen, sobald es wieder dunkel ist. Es gibt eine kleine
Tür, durch die man noch aus dem Haus kommt«, flüsterte
sie.
Nachdem
ein weiterer Tag der Angst und Unruhe vergangen war, führte
Laoshu Yazi zu einer schmalen Öffnung in der Mauer des Gartens,
schloss sie dann kurz aber kraftvoll in die Arme.
»Ich
werde nachsehen, wie die Lage auf den Straßen ist. Warte bis
zum Morgengrauen auf mich. Falls ich nicht zurückkomme, musst du
selbst entscheiden, ob du bleibst oder gehst.«
»Du
sollst dich nicht meinetwegen in Gefahr begeben«, protestierte
Yazi, doch eine Handbewegung ihrer Dienerin brachte sie zum
Schweigen.
»Du
warst mir eine gute Herrin und hast es nicht verdient zu sterben, nur
weil dein vornehmer Gemahl zu dumm war, um rechtzeitig zu fliehen«,
meinte Laoshu mit Nachdruck, bevor sie in eine völlig
veränderte, unbekannte Welt verschwand.
Yazi
wartete ruhig in ihrem Zimmer, verschloss ihre Ohren vor allem
Wimmern und Klagen der anderen Frauen, und versuchte sich durch das
Nachsprechen von Gebetstexten, die sie aus ihrer Kindheit kannte, zu
beruhigen.
Mit
dem ersten Tageslicht trat ein Moment der Ruhe ein, da alle Bewohner
des Hauses völlig ausgelaugt waren. Yazi zog ihre traditionelle
Hakka-Kleidung an, nahm Chuntian in den Arm und schlüpfte rasch
durch die Mauer. Sie hoffte, dass Laoshu einfach allein geflohen war,
da sie eine Rückkehr für zu gefährlich gehalten hatte.
Jetzt würde sie diesem Beispiel folgen.
Die
Straße schien gespenstisch still, doch lag ein starker Geruch
von Rost in der Luft. Erst als Yazi über einen leblosen Körper
stolperte, erinnerte sie sich, dass es beim Schlachten in ihrem
Heimatdorf ähnlich gerochen hatte. Ihr linker Fuß stand
bereits in einer Blutlache.
Sie
drückte Chuntian an sich und ging entschlossen weiter. Leider
wusste sie nicht einmal, wo sich die Stadtmauer befand, doch würde
sie sicher bald zu sehen sein. Yazi machte einen Schritt nach dem
anderen, hielt ihren Blick auf den Horizont gerichtet und trat alle
Hindernisse zur Seite, ohne sie näher anzusehen. Erst ein lautes
Wimmern ihrer Tochter zwang sie, wieder auf den Boden zu blicken.
Laoshu
lag vor einem Hauseingang. Ihr Gesicht schien sanft und friedlich,
wie es ihrem Wesen entsprach. Nur die bereits getrocknete Blutlache
auf ihrem Unterleib verriet, dass sie niemals wieder würde
aufstehen können.
Yazi
beugte sich und strich sanft über die eiskalte Wange ihrer
Dienerin. Wie blutrünstig dieser fremde Gott doch sein musste,
um den Tod einer derart unscheinbaren Maus zu verlangen!
Als
Chuntians Wimmern zu einem lauten Klagen wurde, hielt Yazi ihrer
Tochter den Mund zu. Gebeugt huschte sie an den Fassaden der Häuser
entlang, bis sie zu einer breiten Straße gelangte. Hier waren
die Leichen zu kleinen Hügeln getürmt. Yazi musste eine
Faust gegen die Zähne pressen, als sie sah, dass sich an einigen
Gliedmaßen bereits Ratten festgebissen hatten. Dann bohrte eine
Hand sich in ihre Schulter, ließ sie vor Schreck versteinern.
»In
einer Zeit wie dieser sollte eine Frau nicht allein herumlaufen«,
sagte eine Männerstimme in der Sprache der Hakka. Entschlossen,
sich selbst und ihre Tochter mit aller Kraft zu verteidigen, riss
Yazi sich los, fuhr angriffslustig herum und erblickte das breite,
freundliche Gesicht eines älteren Mannes.
»Ich
bin Quan Li Shao. Schneider von Beruf«, erklärte der
Fremde, während er sie sanft zu einem Hauseingang schob. Yazis
Verstand mahnte zur Vorsicht, aber in all dem Grauen tat der Klang
der vertrauten Sprache ihrer Kindheit so wohl, dass sie der Einladung
folgte.
Ein
kleiner Raum tat sich vor ihr
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