Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
küsste Yazi auf die Stirn,
bevor er ihr die untere Hälfte des Gedichts übergab. Dann
richtete er sich entschlossen auf.
»Ich
muss jetzt wirklich zu meiner Familie gehen. Unser Geld ist
aufgebraucht. Warte hier auf mich. Ich sollte erst allein mit ihnen
reden.«
Yazi
fühlte ein Ziehen in ihrem Magen.
»Wann
kommst du zurück?«, fragte sie. Andrew lächelte
beruhigend.
»Wahrscheinlich
schon am Nachmittag. Ich werde das Dokument mitnehmen, das unsere Ehe
gültig macht. Dagegen können sie nichts machen.«
Yazi
zwang sich aufzustehen. Ihr Kopf schmerzte so stark, dass ihr schwarz
vor Augen wurde, und ihr Magen zwängte das Abendessen unwillig
empor. Der himmlische König hatte wirklich gute Gründe
gehabt, Alkoholgenuss zu verbieten.
»Bitte
beeile dich«, flüsterte sie und presste ihren Kopf gegen
Andrews Brust. Seine Arme umschlossen sie wie eine warme, weiche
Decke. Sie hoffte, bis an den Rest ihres Lebens in seiner Liebe ruhen
zu können. Die Trennung tat weh, doch würde es sich nur um
ein paar Stunden handeln. Yazi grinste, als Andrew wieder einmal
vergaß, rechtzeitig den Kopf zu senken und deshalb am Türrahmen
anstieß. Stöhnend fuhr er mit der Hand durch das
weizenfarbene Haar, stieß einen englischen Fluch aus und
verschwand. Sie staunte, welche Leere er hinterließ, als habe
sich in ihrem Leben plötzlich ein Loch aufgetan, in das sie zu
stürzen drohte. Ihr völlig erschöpfter Zustand hatte
Vorteile, befand sie. Sie würde sich hinlegen und schlafen, bis
Andrew wiederkam. Tatsächlich gelang es ihr, eine Weile vor sich
hinzudämmern und alle Sorgen aus ihrem schmerzenden Kopf zu
scheuchen. Dann wurde sie von Chuntians Wimmern aufgeweckt.
»Mutter,
es dämmert bereits. Wo ist Andrew?«
»Er
kommt bald«, erwiderte sie und ärgerte sich über das
empfindsame, ungeduldige Wesen ihrer Tochter. Nochmals fiel sie in
erlösenden Schlaf. Als ihre Augen sich erneut öffneten,
nahm sie finstere, nächtliche Schwärze wahr. Unruhig
streckte sie die Hand nach Andrews vertrautem Körper aus, griff
aber ins Leere. Allmählich wurden die Planken der Zimmerdecke im
Mondlicht sichtbar und Yazi verbrachte den Rest der Nacht damit, sie
anzustarren, während das Herz in ihrer Brust raste. Sie hörte
ein paar Schreie. Vermutlich fielen betrunkene Herumtreiber
Straßenräubern zum Opfer. Dann begannen die ersten Händler
mit lautem Kreischen Morgensuppe und Reis anzupreisen, eine
Frauenstimme plärrte hysterisch, dass der Ehemann das ganze Geld
verspielt hatte, und unter dem Fenster hörte Yazi eine
Mädchenstimme wimmern.
Der
Tag war angebrochen.
All
ihre Knochen schmerzten, als sie aufstand. Sie schüttete einen
Eimer Wasser, den die Wirtin noch am Vorabend hereingebracht haben
musste, über sich aus. Leider war es inzwischen lauwarm
geworden.
»Wo
ist Andrew?«, klagte Chuntian erneut. Jinzi, der in ihren Armen
lag, begann zu wimmern. Yazi merkte, dass sie selbst am ganzen Leib
zitterte.
»Er
kommt«, wiederholte sie sein Versprechen wie einen
Gebetsspruch. »Er ist jeden Augenblick hier.«
8. Kapitel
Das
Geld reichte noch für drei Tage in der Herberge. Sie aßen
wieder trockenen Reis, tranken dünnen Tee, der nach Wasser
schmeckte, und warteten. Yazi begann, wie ein unruhiges Tier in dem
winzigen Zimmer herumzulaufen. Die Nächte auf der leeren
Matratze waren noch qualvoller. Sie ließ die Kinder neben sich
schlafen, um weniger einsam zu sein, doch Chuntian beschwerte sich
über ihr ständiges Herumwälzen.
»Er
kommt nicht mehr«, sagte die Tochter, als der vierte Morgen
graute. »Er ist bei seiner Familie, die uns nicht will.«
Rasende
Wut jagte durch Yazis Körper. Wie von selbst hob sich ihre Hand
und schlug auf Chuntians zarte Wange, um dort einen roten Fleck zu
hinterlassen. Sie hörte einen leisen Schrei, doch die Augen
ihrer Tochter sahen sie klug und ruhig an, als könnten sie
dieses Verhalten verstehen. Yazi hob nochmals die Hand, diesmal um
gegen die Wand zu schlagen. Der Schmerz tat wohl, sie hatte ihn
verdient.
»Es
tut mir leid«, sagte sie zu Chuntians allwissendem Gesicht.
Ihre Tochter nickte nur.
»Willst
du ihn suchen gehen? Wir könnten es wenigstens versuchen. Mein
Englisch ist gut genug. Ich kann mich in der internationalen Siedlung
durchfragen.«
Yazi
zögerte einen Augenblick. Wenn Andrew nicht mehr zurückkommen
wollte,
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