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Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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sollte sie ihm dann hinterherlaufen wie ein verlassener Hund?
Doch tief in ihrem Inneren vermochte sie nicht zu glauben, dass er
freiwillig fortblieb, und es entsprach auch nicht ihrem Wesen, einen
derartigen Verrat duldsam hinzunehmen. Er war ihr wenigstens eine
Erklärung schuldig.
         Sie
brachen sogleich auf. Chuntian trug ihren Bruder auf dem Arm, während
Yazi ihnen den Weg durch die dichte Menschenmenge bahnte. Sie
staunte, wie hell die internationale Siedlung im Vergleich zu dem
engen, chinesischen Stadtteil war. Breite Straßen, steinerne
Häuser und große, dunkelhäutige Männer mit roten
Turbanen, die für Ordnung sorgten. Sie sahen aus wie braun
angemalte Lao Wai in seltsamer Verkleidung. Chuntians Englisch wurde
nicht gebraucht, denn es waren sehr viele Chinesen auf den Straßen
unterwegs. Die wenigen Lao Wai, die in Jinrikschas und von Pferden
gezogenen Gefährten vorbeifuhren, schenkten ihnen nicht mehr
Beachtung als dem Schlamm, den die Räder ihrer Gefährte
hochspritzen ließen. Yazi kannte den Shanghaier Dialekt kaum.
Als sie einen kleinen Mann mit ausgemergelten, aber klugen
Gesichtszügen auf Mandarin ansprach, erhielt sie die Auskunft,
dass Lao Wai mit Vorliebe an den Ufern des Huangpu wohnten. Er zeigte
ihr geduldig den Weg, schlug dann vor, irgendwelche Dienstboten zu
fragen, denn wer sollte diese Lao Wai-Familien sonst
auseinanderhalten können.
         Eine
Doppelstunde später standen sie vor einem großen, grauen,
steinernen Haus, das einer Festung glich. Stufen führten zur
Eingangstür, aber Yazi wagte sie nicht zu erklimmen. Sie
wartete. Irgendwann würde jemand herauskommen. Andrew
vielleicht.
         Es
kam nur eine zarte Gestalt auf Lotusfüßen, die einen
grauhaarigen Lao Wai in der üblichen, schwarzen Kleidung nach
draußen begleitete und sich zum Abschied vor ihm verneigte. Der
ausgemergelte Gelehrte hatte Yazis Angebot, eine Mahlzeit zu
bekommen, wenn er als Übersetzer tätig war, freudig
angenommen. Daher lief er der Frau sogleich entgegen, um sie mit sehr
höflicher Miene auszufragen.
         »Es
ist kein verlorener Sohn heimgekehrt«, teilte er Yazi kurz
darauf mit. »Sie haben nur einen Sohn und der wohnt seit Jahren
hier. Leider hatte die Hausherrin vor ein paar Tagen einen schweren
Unfall. Diese Bedienstete hat soeben den Arzt hinausbegleitet. Die
Familie ist in Aufruhr, denn es steht nicht gut um die alte Dame.«
         Yazi
starrte ratlos zu den großen, mit Stoffen verhangenen Fenstern
empor. Wo war Andrew?
         »Mutter,
wir haben alle Hunger«, mahnte Chuntian. Yazi fiel ein, dass
sie kein Geld mehr hatte, um Essen für ihre Familie und den
verarmten Gelehrten zu bezahlen. Sie drückte dem hilfsbereiten
Mann ihre letzte Münze in die Hand. Er bedankte sich
überschwänglich, dann verschwand er.
         »Wir
müssen hinein. Irgendjemand da drin weiß vielleicht, wo
Andrew ist«, meinte sie zu ihrer Tochter, die sich auf die
Lippen biss, bis sie blutig waren. Aber dann überwand sie ihre
angeborene Schüchternheit und stieg die Stufen zur Eingangstür
hoch.
         Ein
Junge öffnete. Zunächst blickte er die zwei schäbig
gekleideten Frauen abfällig an, doch als Chuntian ihn in ihrem
fließenden Englisch ansprach, wich er fassungslos einen Schritt
zurück. Yazi drängte sich herein. Chuntian folgte zögernd.
Der Junge blabberte etwas Unverständliches, dann führte er
sie in einen kleinen Raum dicht neben der Eingangstür und
huschte davon.
         »Er
hat gesagt, wir sollen hier warten«, erklärte Chuntian.
»Sein Englisch ist schlecht. Ich habe ihn kaum verstanden.«
         Yazi
musterte die Einrichtung des Hauses, denn der Junge hatte es
versäumt, die Tür hinter ihnen zu schließen. All
diese klobigen Möbel, über deren Verzierungen man beim
Gehen stolpern musste, stahlen das Licht und erdrückten jeden
Raum mit ihren Schatten. Wie konnten Menschen in dieser düsteren
Atmosphäre leben wollen?
         Sie
vernahm Schritte und flüchtete ins Innere des Raumes, wo eine
weich gepolsterte Bank stand, setzte sich zwischen ihre zwei Kinder
und legte ihre Arme um sie. Sie sah die kleine Frau mit Lotusfüßen
eintreten, die sie wie lästiges Ungeziefer musterte. Hinter ihr
erschien eine hochgewachsene Gestalt.
         Bisher
war Marie Lindley die einzige weibliche Lao Wai gewesen, die Yazi
näher hatte mustern können. Nun erblickte sie ein weiteres
Exemplar. Die Frau hatte bräunliches Haar, das in ihrem Nacken
zu einem Knoten

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