Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Chuntian und Jinzi. Immer weiter liefen sie, wollten in der
verwinkelten Enge des chinesischen Stadtteils versinken, als Yazi
plötzlich eine Hand an ihrer Schulter spürte, die sie
zurückriss. Für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus.
Wenn sie jetzt verhaftet wurde, was würde dann aus ihren
Kindern?
Ein
Gesicht schob sich in ihren Blickwinkel. Es war ihr trotz aller
Fremdheit vertraut. Eine Lao Wai mit schwarzen Augen und brauner Haut
starrte sie neugierig an. Auch sie steckte in einem weit schwingenden
Rock, doch fiel der Stoff natürlich sanft an ihrem Körper
entlang, ohne irgendein Gestell, das für unnatürliche
Formen gesorgt hätte. Yazi schossen Tränen der
Erleichterung in die Augen, als sie Marie Lindley erkannte.
»Mein
Gott, ich fasse es nicht! Die kleine Wildkatze rennt durch Shanghai
und hat mich fast umgeworfen!«, rief Marie belustigt. »Wie
kommst du denn hierher? Ist Andrew bei dir? Ihr wart beide plötzlich
verschwunden.«
Yazi
holte Luft, um zu antworten, doch kehrten mit Maries Anblick auf
einmal sämtliche Erinnerungen an die Zeit mit Andrew in Nanjing
zurück. Ein Pfeil von Schmerz stach in ihre Brust, als ihr
endgültig bewusst wurde, dass ihr weizenhaariger Engländer
verschwunden war, ohne jede Spur zu hinterlassen, dass sie ihn
vielleicht niemals würde finden können. Von seiner Familie
war keine Hilfe zu erwarten und es gab sonst niemanden, an den sie
sich wenden konnte. Während sie bemüht war, Marie all dies
zu erklären, wurden ihre Worte von Schluchzern erstickt und sie
fiel wie ein jämmerliches Bündel von Unglück in Maries
Arme.
******
Die
Lindleys hatten sich in einem kleinen Hotel in der internationalen
Siedlung einquartiert. Yazi erhielt eine Schnapsflasche zur
Beruhigung ihrer Nerven und konnte sich hinlegen, während Marie
den Kindern ein europäisches Kartenspiel zeigte. Als Augustus
erschien, schilderte seine Frau ihm Yazis Lage. Er brach sogleich
auf, um sich bei seinen Landsleuten umzuhören. Irgendjemand
musste Andrew schließlich gesehen haben, meinte er mit so viel
Überzeugung, dass Yazi das Atmen wieder leichter zu fallen
begann.
Sie
wartete. Da sie keinen Schlaf finden konnte, setzte sie sich zu Marie
und versuchte, die Regeln des Spiels zu begreifen, doch war in ihrem
Kopf kein Raum für neues Wissen. All ihre Gedanken wirbelten um
die Frage, was mit Andrew geschehen war. Sie nippte immer wieder an
der Schnapsflasche, bis Marie sie ihr wegnahm.
»Am
Ende wird dir schlecht davon«, meinte sie nur und besorgte
stattdessen eine Kanne Tee, die sie gemeinsam mit den Kindern
leerten. Es gab auch europäisches Gebäck, das beim
Hineinbeißen stark bröselte. Normalerweise wäre Yazi
neugierig gewesen, wie es schmeckte, aber jetzt schien ihr Gaumen
empfindungslos.
»Es
war natürlich nicht sehr geschickt, dass du diese arrogante
Ziege angegriffen hast, obwohl ich gern dabei zugesehen hätte«,
sagte Marie mit spöttisch funkelnden Augen. »Jetzt wird es
schwierig sein, mit der Familie zu reden. Und du zeigst dich dort
besser nicht mehr. Die Gerichtsbarkeit hier liegt ganz in der Hand
der Engländer.«
Yazi
senkte schuldbewusst den Kopf. Marie füllte die Teetassen erneut
und redete weiter.
»Andrew
ist vielleicht untergetaucht. Im Moment sind Briten, die an der Seite
der Taiping kämpften, hier nicht gern gesehen, denn die
englische Regierung hat ganz klar Stellung bezogen.«
»Was
ist mit Augustus?«, fragte Yazi nur.
»Er
arbeitet an einem Buch über den Taiping-Aufstand«,
erzählte Marie. »Er hat bis zum Schluss mitgekämpft
und mehrere Schiffe kommandiert. Einmal gelang es ihm sogar, General
Gordon von der ewig siegreichen Armee einen ganzen Dampfer zu
entführen.«
Sie
kicherte kurz, doch als Yazi nicht einstimmte, wurde ihre Miene
wieder ernst.
»Augustus
hat immer wieder gehofft, die Engländer würden ihre Politik
ändern. Vor allem nach der grausamen Hinrichtung von Shi Dakai,
über die sogar Gordon empört war, denn er hatte eine
Begnadigung angeordnet. Augustus will klarmachen, warum die englische
Regierung sich in dieser Angelegenheit völlig falsch verhielt
und dem chinesischen Volk die Chance nahm, das Joch der Unterdrückung
durch die Mandschus abzuschütteln. Dabei geizt er allerdings
nicht mit melodramatischen Elementen.«
Wieder
stieß sie ein leises Kichern aus und fuhr mit blitzenden Augen
fort, als hoffe sie,
Weitere Kostenlose Bücher